: Herzenslinke
■ betr.: "Vergossene Milch oder die gescheiterte Vereinigung" (Editorial) von Klaus Hartung, taz vom 4.8.90
betr.: „Vergossene Milch oder die gescheiterte Vereinigung“ (Editorial) von Klaus Hartung,
taz vom 4.8.90
Offenbar gehört Klaus Hartung zu jenen Herzenslinken, die sich für eine bessere Welt engagieren, es aber versäumt haben, sich das wissenschaftliche Rüstzeug zuzulegen, ohne das bei einem solch schwierigen Unterfangen nicht auszukommen ist.
Das Versäumnis der Herzenslinken, die Marxsche Analyse der kapitalistischen Produktionsweise nicht gescheit studiert zu haben, zeitigt in Klaus Hartungs Editorial allerlei Ungereimtheiten. So wird zwar von „kapitalistischer Ellbogengesellschaft“ gesprochen und konstatiert: „Die Menschen in der DDR werden noch auf lange Zeit ein niedrigeres Lohnniveau, eine kürzere Lebenszeit und ihre kaputten Städte hinnehmen müssen.“ Dennoch soll ausgerechnet die kapitalistische Marktwirtschaft das Mittel zur Herstellung eines angenehmen Lebens sein.
Dieser Widerspruch hat seine Ursache darin, daß Herzenslinke aus Unkenntnis einem falschen Schein aufsitzen. Das augenscheinliche Scheitern der realsozialistischen Ökonomie wird als Beleg für die Naturgegebenheit kapitalistischen Produzierens genommen. Dergestalt fallen gleich zwei Dinge unter den Tisch. Erstens enthebt mensch sich der Mühe, die „Planwirtschaft“ der Honecker & Co. angemessen zu kritisieren.
Und zweitens wird ignoriert, daß es beim marktwirtschaftlichen Produzieren nicht um die Versorgung der Leute mit lauter guten Gebrauchswerten, sondern um die Profitmaximierung mittels Tauschwertproduktion geht. Kapitalisten sind, bedingt durch die Zwänge der Konkurrenz, halt keine Wohltäter, sondern Geschäftsleute, die an zahlungsfähiger Nachfrage interessiert sind.
Wenn Herzenslinke etwas von Politökonomie verstünden, dann bliebe ihnen auch die Peinlichkeit erspart, mit Jesus-Fan Blüm der Meinung zu sein, daß die „Vereinigung eine große historische Chance“ sei. Statt dessen wüßten sie, daß der Anschluß der DDR dem DM-Imperialismus neue Schubkraft geben wird, weil die Vernutzung der realsozialistischen Konkursmasse die Verwertungsbedingungen des Kapitals verbessert. Die Untertanen allerdings werden vom imperialistischen Aufstieg ihres Staates wenig haben, denn die Staatsgewalt bedient sich ihrer als Mittel für die Staatszwecke.
Diese unangenehme Verkehrung von Subjekt und Objekt ist Herzenslinken kein Problem, weil sie an der ökonomischen Basis desinteressiert sind. Folgerichtig landen sie deshalb schließlich in den luftigen Höhen des philosophischen Überbaus. Dort angelangt, schleudert unser Herzenslinker der Kohl/de Maizierschen „Tempopolitik“ ein vernichtendes Urteil entgegen: „Es fehlt eine Idee der Vereinigung!“
Angesichts dieser Einfalt möchte ich den herzensguten Linken in den Redaktionsstuben einen Rat geben: Nehmt bitte zwei bis drei Jahre Bildungsurlaub, um die Kritik der politischen Ökonomie zu studieren, bevor Ihr wieder einmal versucht, Euren LeserInnen das „Unternehmen Vereinigung“ (oder andere politökonomische Gegenstände) zu erklären.
Franz Anger, Neuss (BRD)
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