piwik no script img

betr.: "Das Schlürfen ist nicht gestattet"

Europa im Jahr 1990. Ein Volk vereinigt sich wieder. Doch die Freude über das Einig Vaterland wird immer wieder durch peinliche Pannen getrübt. Im historischen Paarungsakt verpatzen vor allem die Ostdeutschen mit ihren in den vierzig Jahren stalinistischer Diktatur gewachsenen und absonderlichen Eigenheiten den nationalen Orgasmus. Hier machen sich schmerzlich die Langzeitschäden realsozialistischer Mangelwirtschaft und Unkultur bemerkbar. Wen quälen nicht heute noch die Bilder der bananenreißenden DDRler? Jeder ordentliche Deutsche löst diese Südfrucht aus der Schale, indem er die Spitze einschneidet und die Schalenstücke abzieht. Doch in ihrer nur durch die furchtbaren Jahre der SED-Herrschaft zu entschuldigenden, Gier benutzten die geknechteten Brüder und Schwestern die nackten Finger statt, wie in abendländischen Kulturkreisen üblich, Messer und Gabel. Oft genug waren ihre Hände schmutzig, von Mauerkrümeln und Staub überzogen. Und diese Bilder gingen um die Welt. Gott sei Dank war es Nacht an jenem 9. November.

Doch täuschen wir uns nicht, diese friedliche Revolution wurde nicht nur durch den unbändigen Freiheitswillen der Ostdeutschen vom Zaune gebrochen. Nein, in den Augen der Leipziger Montagsdemonstranten glänzte auch die Sehnsucht nach einer neuen Kultur: Essen und Trinken wie alle Deutschen.

Doch die Machthaber gönnten sich seit langem, wonach das Volk noch dürstete. In geheimen Zirkeln wurden führende Funktionäre auf das Leben außerhalb von Mauer und Stacheldraht vorbereitet. Wie kleide ich mich bei freien Völkern? Was esse ich wie in einer Demokratie? Auf Fragen, die heute im Osten Millionen Landsleute quälen, hatte das SED-Regime eine Antwort - aber nicht das unterdrückte Volk. Die Funktionäre wurden für den den Umgang mit nichtsozialistischen Völkern geschult und lachen heute über die Schwierigkeiten ihrer ehemaligen Untertanen, die für den schweren Weg in die deutsche Einheit nicht gerüstet sind.

Wir stehen als gesamtdeutsche Kulturredaktion in der Pflicht. Das Zivilisationsgefälle zwischen Ost und West muß abgebaut werden. Auch die Menschen in Dresden, Erkner und Eichwalde haben das Recht auf eine saubere Serviette. Viel zu lange hinderten die Stasi-Schergen sie daran, Kaviar mit Zitrone zu beträufeln. Auf diesen Kulturseiten dokumentieren wir ein streng geheimes Vorlesungmanuskript eines ranghohen und für Protokollfragen zuständigen SED-Regierungsbeamten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen