Der Agrarminister als Bauernopfer

■ Dreißigtausend aufgebrachte Bauern demonstrierten auf dem Alex gegen den drohenden Kollaps der DDR-Landwirtschaft/ Landwirtschaftsminister Pollack: zuerst wurde ihm die Autoheckscheibe eingeschlagen, dann feuerte ihn de Maiziere

Ost-Berlin. In Bonn sind die Politiker gut, in der Hauptstadt der DDR sind sie schlecht. Das jedenfalls war gestern auf dem Alexanderplatz der Tenor einer Kundgebung von rund 30.000 empörten Bauern, zu der der Genossenschaftsverband und andere Agrarvereinigungen aufgerufen hatten. „Lieber eine Himmelfahrt mit Herrn Kiechle als eine Hölle mit Herrn Pollack“, verhieß eines der vielen Plakate. „Weil die Bonzen noch regieren, sitzen wir auf unseren Tieren“, lautete eine weitere Parole.

Zum Opfer ihrer hilflosen Wut - hilflos, weil die allermeisten Wiedervereinigung und Währungsunion ja gewollt hatten - erkoren sich die Demonstranten die erschienenen Vertreter der Hauptstadt. Der Vorsitzende des Volkskammerausschusses für Landwirtschaft kam in den gellenden Pfiffen und Buhrufen ebensowenig zu Wort wie der parteilose Landwirtschaftsminister. „Pollack abtreten“, schrie der halbe Platz, bis der von der SPD gestellte Minister nach zwei Versuchen in einem Hagel von Eiern und Tomaten auf seine Rede verzichtete. Abseits des Mikrofons bekam er dann auch noch Fausthiebe ab, die Heckscheibe seines Dienstwagens wurde eingeschlagen. „Ich bin Bauer“, rief ihm der nächste Redner hinterher, „ich kriege 635 DM im Monat. Unsere Volkskammerabgeordneten kriegen 6.000 DM dafür, daß sie die Bauern unterpflügen. Minister Pollack bekommt 16.000 DM, so viel wie ich für anderthalb Jahre Arbeit. Und er sitzt auf'm Sessel und furzt.“ Jetzt nicht mehr: Der glücklose Minister wurde buchstäblich zum Bauernopfer, als ihn Lothar de Maiziere direkt nach der Kundgebung zusammen mit weiteren drei Ministern feuerte. Nicht viel besser erging es dem CDU-Staatssekretär und Staatsvertragsunterhändler Günther Krause auf dem Alex. „Wir haben elf Millionen Schweine“, rief Krause im Pfeifkonzert fast ungehört, „ich wohne selbst auf einem Dorf und kenne die Probleme.“

Beifall erhielt jedoch sowohl der SPD-Bundestagsabgeordnete Günther Jahn als auch der französische Landwirt und Funktionär Marcel Champloy. Letzterer kündigte eine Klage beim Europäischen Gerichtshof gegen Konzerne an, „die keine DDR-Produkte in der DDR verkaufen wollen“. Jedem neu in die EG eintretenden Land werde fünf bis sieben Jahre Übergangszeit für Strukturanpassungen eingeräumt, „euch aber gibt man nur fünf Wochen“.

Die meisten DDR-Bauernfunktionäre trafen ebenfalls die gewünschten Töne - auch wenn sich die nicht sonderlich von den alten Aufbauparolen unterschieden. „Wir haben mit unserer erfolgreichen Arbeit in den Ställen und auf den Feldern für die Durchführung der Wende gesorgt“, rief mit Inbrunst der Präsident des Genossenschaftsverbandes, Edgar Müller. Er forderte unter anderem einen Nachtragshaushalt für die Landwirtschaft und eine Entschuldung der Betriebe. Und Karl Semmering, Präsident des Bauernverbandes, schwärmte mit überschnappender Stimme gar vom „Schmieden der diesjährigen Aktionseinheit aller Bauernverbände“.

Ute Scheub