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„Mein Trost: So wie jetzt kann es nicht weitergehen“

■ DDR-Arbeits- und Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD) über Arbeitslosigkeit, über die speziellen Probleme von Frauen, die „unerhörte“ Aussage von Bundesfinanzminister Waigel sowie über Umschulungsmaßnahmen, Weiterqualifizierung und Beschäftigungsgesellschaften

Die DDR-Arbeitsministerin Regine Hildebrandt schlägt Alarm. Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der DDR überschlägt sich und droht, alle Übergangskonzepte aus Bonn und Ost-Berlin über den Haufen zu werfen. Auf mehr als eine Million schätzt die Ministerin die reale Arbeitslosenzahl zu Mitte August - nur sechs Wochen nach Beginn der Währungsunion. Und die Zahl wird weiter steigen. Wie kann diese Lawine bewältigt werden? Welche Möglichkeiten gibt es, die Zeit zwischen dem sich anbahnenden Zusammenbruch der DDR -Wirtschaft und dem erhofften Aufschwung ohne soziale Katastrophen zu überbrücken?

taz: Sie haben angekündigt, nach der Politik wieder in Ihren Beruf als Biologin zurückzukehren. Sind Sie sicher, daß Ihr Arbeitsplatz dann noch vorhanden ist?

Hildebrandt: Absolut nicht. Für die Zentralstelle für Diabetes war schon Anfang des Jahres klar, daß eine Reduktion speziell im Labor nötig sein würde. Das führte auch dazu, daß wir uns gleich stark gemacht, Konzepte entwickelt und einen Betriebsrat gebildet haben, um die Arbeitsplätze zu bewahren. Nun bin ich leider weg, und den Rest können Sie sich denken.

Wir sind beim Thema. Wie ist der aktuelle Stand der Arbeitslosigkeit - ist die offizielle Zahl der Arbeitslosen, auf die Staatssekretär Krause sich beruft, realistisch?

Offiziell sind es zuletzt bereits 3,4 Prozent gewesen. Wir müssen aber davon ausgehen, daß wir in der gleichen Zeit etwa 600.000 registrierte und knapp 900.000 angemeldete Kurzarbeiter verzeichnen, die zu 90 Prozent die Kurzarbeit Null haben. Wir hatten so eine Erfassung im Juli zum ersten Mal durchgeführt, und dieses hohe Ausmaß von Kurzarbeit Null hatte ich nicht erwartet. Wir können davon ausgehen, daß etwa 1,1 Millionen Arbeitnehmer ohne Arbeit sind - also um die zehn Prozent.

Treuhand-Chef Gohlke geht davon aus, daß in der DDR kein konkurrenzfähiger Betrieb existiert.

Gohlkes Einschätzung beruht offensichtlich darauf, daß die Treuhand mit den 41 Prozent Liquiditätskrediten für Juli nun noch den gesündesten Betrieb ins Abseits bringt. Bei 41 Prozent Liquidität für den Juli ist klar, daß zuerst die Investitionen gestrichen werden. Demzufolge kommt selbst ein Betrieb mit geringem Investitionsbedarf nicht zum Zuge. Ich glaube jedenfalls nicht, daß es bei uns keinen konkurrenzfähigen Betrieb gibt.

Die West-Unternehmen investieren, scheint es, so gut wie gar nicht. Das dürfte Folgen für die Entwicklung des Arbeitsmarktes haben.

Was wir jetzt erleben, ist nur der Anfang. Wir müssen davon ausgehen, daß nicht-sanierungsfähige Betriebe keine Liquiditätskredite mehr erhalten und in Konkurs beziehungsweise in dieses gestreckte Abwicklungsverfahren gehen. Das beginnt jetzt erst, und deren Arbeitnehmer kommen dann noch dazu.

Ist gegen diese Entwicklung noch zu steuern?

Wir hatten uns auf einen großen Ansturm eingestellt. Die Arbeitsämter sind soweit arbeitsfähig, daß sie schon mit Hunderttausenden fertig werden. Die Kurzarbeiterregelung haben wir schon weit günstiger angelegt als in der Bundesrepublik. Wir schicken ja nicht nur Leute in die Kurzarbeit, deren Betriebe bald wieder sanierungsfähig sind, sondern auch die, bei deren Betrieben das nicht so ist. Wenn wir diese Kurzarbeiter jetzt tatsächlich alle in den Arbeitsämtern hätten, dann wäre es technisch nicht mehr zu bewerkstelligen.

Diese Kurzarbeiterregelung ist auf ein Jahr begrenzt.

Wir wollen die Regelung in dieser Form - abgesehen davon, daß sie verlängerbar ist - nicht beibehalten. Aktuell geht es darum: Wenn wir keine Arbeitsplätze haben, und derzeit haben wir nur 20.000 freie Stellen, müssen wir Möglichkeiten schaffen, die Überbrückung zu gestalten zwischen dem jetzigen Zustand und dem Wirtschaftsaufschwung, der über kurz oder lang kommen muß.

Muß oder wird?

Kommen wird. Mein einziger Trost ist, daß es so wie jetzt nicht weitergehen kann. Wir gehen mit der Bundesrepublik zusammen, und in dieser Republik darf es dann keinen armen Teil geben. Wir werden Möglichkeiten finden, und die Bundesrepublik muß Möglichkeiten finden, um das zu verhindern.

Nachdem anfangs mehr Männer in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden, dreht sich das jetzt zuungunsten der Frauen um. Wen wird es vor allem treffen?

Natürlich die Risikogruppen...

Bitte?

Die Frauen sind nicht die Risikogruppe schlechthin - wir wissen schon, nicht immer Frauen und Behinderte zusammen nennen zu dürfen, da kriegt man ja Komplexe. Aber die älteren Frauen, die noch nicht das Vorruhestandsalter erreicht haben und möglicherweise entlassen werden, die Alleinerziehenden sowie die Frauen mit geringer Qualifikation werden am schlechtesten zu vermitteln sein. Es werden nicht nur mehr Frauen entlassen, sondern auch deutlich weniger vermittelt als Männer - etwa nur ein Drittel!

In der alten DDR gab es arbeitsrechtlichen Schutz für Frauen. Kann das ins geeinte Deutschland hinübergerettet werden?

Als wir die Gesetze der Bundesrepublik übernahmen, haben wir unsere Arbeitsgesetze soweit belassen, wie der Spielraum es zuließ. Dazu gehören auch besondere Vergüngstigungen für Frauen - etwa der Haushaltstag oder die Möglichkeit der bezahlten Freistellung bei Erkrankung der Kinder. Das wollen wir auch beibehalten, und das ist beim Einigungsvertrag in der Diskussion.

Zur Freude Ihrer Verhandlungspartner?

Die Verhandlungen sind sehr hart, der Bewegungsspielraum ist sehr gering. Die Reaktionen aus Bonn, nicht nur zu den Frauen, sondern auch zur Erhaltung des Vorruhestands - diese Regelung ist ja in der Bundesrepublik gerade abgeschafft worden - und zur Dynamisierung der Sozialzuschläge werden allein schon publizistisch abgelehnt. Und wir machen jetzt publizistisch fest, daß wir das aber wollen!

Was können Sie dagegen tun 'daß Frauen auch aus frauenspezifischen Berufen gedrängt werden?

Das ist ganz schwer. Ich will Risikogruppen sichern. Aber wenn sie gesetzliche Regelungen einführen, bei denen ein Unternehmer bestimmte Leute nicht wieder los wird, dann stellt er die gar nicht erst ein. Unsere Westkollegen raten uns daher, mit solchen Gesetzen sehr sensibel umzugehen. Und wir können den Arbeitgeber nicht nötigen, diese Arbeitnehmer einzustellen. Für die Frauen wollen wir auf jeden Fall mit den Mitteln des Arbeitsförderungsgesetzes den Weg bahnen. Durch Begünstigungen, durch Steuerermäßigungen oder durch Lohnkostenzuschüsse entsteht die Möglichkeit, bestimmte Gruppierungen für den Arbeitgeber attraktiv zu machen.

Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit setzen Sie auf Kurzarbeiterregelung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Umschulung und Weiterqualifizierung. Sie können aber nicht die ganze DDR umschulen, was ist denn Ihre Zielvorstellung?

Jaaa, wir sind so die richtigen Zielvorstellunghaber. Die Situation ist auch gerade dazu angetan - von wegen: Was wir hier machen, ist Krisenmanagement. Wenn wir wissen, daß eine Million Arbeitnehmer aus der Industrie und 250.000 Arbeitnehmer aus der Landwirtschaft raus müssen. Dann brauchen wir uns keine Gedanken machen, was hier für Industrieansiedelungen her müssen. Klar ist: Die Arbeitsplätze müssen sowieso weg. Hin in den mittelständischen Bereich, in die Dienstleistungen und ins Baugewerbe.

Sie haben schon jetzt mit dem Problem zu tun, daß hochqualifizierte Facharbeiter von Westfirmen abgeworben werden. Leisten Sie dann nicht Umschulung für den Westen?

Hoffentlich ist der Markt drüben bald gesättigt und hoffentlich brauchen Betriebe in der DDR qualifiziertes Personal. Wir haben die Mauer nicht mehr und dafür einen freien Arbeitsmarkt; mit den Folgen müssen wir leben. Wir haben das als DDR schon 40 Jahre lang verkraftet. Vor 1961 sogar in einem enormen Ausmaß. Doch nach dem Mauerbau haben wir geschafft, wieder etwas aufzubauen. Wir haben den höchsten Ausbildungsstand in Europa - um 90 Prozent abgeschlossene Berufsausbildung gibt es in keinem EG-Land. Auch wenn uns die Besten abgeworben werden: Wir machen einfach weiter!

Wievele Menschen sind momentan in Umschulungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen?

Etwa 30.000 befinden sich in Qualifizierungsmaßnahmen und rund 4.000 im ABM-Bereich.

Und in den Beschäftigungsgesellschaften?

Derzeit niemand.

Im Westen sind Beschäftigungsgesellschaften nicht überall geschätzt.

In der DDR habe ich keine Probleme klar zu machen, was ich mit einer Beschäftigungs- und einer Abwicklungsgesellschaft will. Die Beschäftigungsgesellschaft ist in der Bundesrepublik diskreditiert. Kein Wunder: Weil Arbeitnehmer, die keine vernünftige Arbeit mehr haben, mit ihrgenwelchem Schnulli beschäftigt werden und proudzieren, was Kosten verursacht aber nichts einbringt - so etwas will ich nicht.

Sondern?

Meine Form von Beschäftigungsgesellschaft - es müßte besser Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsgesellschaft heißen

-soll so aussehen: Wenn ein Betrieb eine große Anzahl von Stellen abbauen muß, soll er die Leute nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen, sondern zusammen mit der Kommune und möglichst noch den Gewerkschaften die Bildung von Gesellschaften oder Vereinen initiieren. Die sind vor Ort in der Lage, die Arbeitnehmer erstmal aufzunehmen, zu verwalten, Qualifizierung und Umschulung zu machen und ABM zu organisieren für gemeinnützige Zwecke. Angesichts des Problems, daß wir mit einem Schlag Hunderttausende versorgen sollen, können die Arbeitsämter nicht gezielt vermitteln. Und die Kommunen können in diesem Umfang - abgesehen vom fehlenden Geld - keine ABM-Maßnahmen organisieren. Wir haben keine Landschaft gemeinnütziger Träger, die ABM in dieser Größenordnung initiieren und kontrollieren. Wir müssen das auf breite Schltern verteilen. Und das sollen diese Gesellschaften machen. Die großen Betriebe sollen erstmal Qualifizierung und Umschulung organisieren. Dort sind doch die Kapazitäten dafür.

Die Mittel muß der Westen bereitstellen. Sie fordern jetzt fünf Milliarden Mark.

Das ist die angeforderte Summe für Infrastrukturmaßnahmen, für Sofortprogramme in der DDR. Das Geld muß in die Kommunen, damit dort die Arbeit beginnen kann. Wenn jede Kommune von den fünf Miliarden etwas abbekommt für ABM vor Ort, dann setzt sich das flächendeckend innerhalb weniger Wochen durch.

Wie reagieren die Kommunen?

Die schicken Riesenstapel von ABM-Anträgen. Man hat dort weitgehend begriffen, wo es langgeht. Aber ihnen fehlt das Geld.

Der westdeutsche Staatssäckel ist nicht unerschöpflich. Haben Sie eine gesamtdeutsche Finanzierungsstrategie?

Versierte Finanzpolitiker müssen doch die Tatsache beachten, daß die Arbeitslosigkeit im Westen so niedrig ist wie seit Jahren nicht mehr. Denken Sie auch daran, daß der Sommerschlußverkauf nach dem Fall der Mauer eine Umsatzsteigerung von mehr als 100 Prozent gebracht, daß viele Westler in der DDR Geschäfte machen, ohne ein Gewerbe zu haben.

Die Westdeutschen sollen sich also schon mal an Steuererhöhungen gewöhnen?

Das hätte man denen schon lange sagen müssen. Bei der, zum Fall der Mauer, großen Welle der Solidarität hätte man einen Gedanken an die Zukunft verwenden müssen. Damals wäre man auf Verständnis gestoßen; heute traue selbst ich mich nicht mehr zu dieser Forderung.

Bundesfinanzminister Waigel wirft Ihrem Kollegen Finanzminister Romberg vor, dauernd mit neuen Forderungen zu kommen.

Das ist unerhört. Wir Laienspieler hier sind uns der Tatsache bewußt, auf einem neuen Gebiet zu arbeiten und deswegen bundesrepublikanische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Durch diese Zusammenarbeit ist die Information über die Krisenentwicklung im Westen so bekannt gewesen wie bei uns. Im DDR-Finanzministerium sitzen Waigels Experten und kriegen nicht nur jede Information, sondern treffen jede Entscheidung mit. Waigel weiß ganz genau, wie unser Haushalt aussieht und wie knapp der ist. Von Verschwendung kann keine Rede sein. Was wir jetzt nachfordern, sind die Sachen, die wir falsch kalkuliert und übersehen haben. Weil die Probleme objektiv größer sind als gedacht. Und: Nicht nur wir mit unserer Unkenntnis von sozialer Marktwirtschaft haben sie nicht gesehen, sondern auch die westlichen Experten erkannten das nicht. Die Blümschen Fachleute sitzen mit unseren Leuten zusammen wie auch die Finanzer aus Ost und West. Die wissen alles. Jetzt den Überraschten zu mimen, ist eine Zumutung.

Was ist Ihr wichtigstes politisches Anliegen für die verbleibende Amtszeit?

Die soziale Ruhe. Und, der Bevölkerung die vorhandene Perspektive zu vermitteln.

Wann kommt das DDR-Wirtschaftswunder?

Ich warte schon seit etlichen Monaten, von einem Schritt zum andern. Erst fehlten die gesetzlichen Grundlagen, dann die Eigentumsfrage, dann das Westgeld. Alles ist da, passiert ist nüscht. Greifts jetzt nach dem Beitritt, oder erst bei einer gesamtdeutschen Regierung? Ich weiß es nicht.

Interview: Axel Kintzinger/Martin Kempe

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