Scholl-Latour und der Himmlische Frieden

■ Einsichten und Geschwätzigkeiten - der Bestseller-Autor und erfahrene Kriegsberichterstatter Peter Scholl-Latour rechnet in seinem jüngsten China-Buch mit der „politsch naiven“ chinesischen Demokratiebewegung und ihren Freunden im Westen ab

Schon ein halbes Jahr nach der gnadenlosen Niederschlagung der Studentenproteste am 3. und 4.Juni 1989 erschien Peter Scholl-Latours China-Buch. Umfangreich ist es (300 Seiten), informativ und flott geschrieben. Die historischen Dimensionen spezifisch chinesischer Mentalität sollen ausgelotet werden, um die Juni-Ereignisse des Exorbitanten zu berauben und als folgerichtige Konsequenz eines bestimmten politisch-sozialen Bewußtseins darzustellen.

Dieses ehrgeizige wie fragwürdige Unternehmen wird von persönlichen Impressionen flankiert: Reiseberichte aus Sinkiang und der inneren Mongolei, Reminiszenzen aus den Jahren der Kriegsberichterstattung und Nostalgisches vom Journalistenstammtisch des „Foreign Correspondents Club“ in Hongkong. Wie schon in seinem Bestseller Der Tod im Reisfeld erweist Scholl-Latour sich als narzistisch -charmanter Plauderer, der sich mitunter entschieden im Ton vergreift.

Seine Deutung der Studentenrevolte und ihres Echos in der Öffentlichkeit ist dagegen erfrischend provokativ. So wirft er der Demokratiebewegung völligen Mangel an politisch gangbaren Konzepten vor. Die Äußerungen des populären Regimekritikers Fang Lizhi, die auf eine Übernahme des westlichen Gesellschaftssystems hinauslaufen, bezeichnet er als naiv und einfallslos.

Sind sie wohl auch. Bereits in den ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts hat es in China den Versuch führender Intellektueller gegeben, westliches Denken en bloc zu importieren. Zwar haben die meisten Studentenführer keineswegs die radikalen Forderungen Fang Lizhis geteilt. Nicht einmal die KPCh. wurde grundsätzlich infrage gestellt.

Doch die harmlos klingenden Rufe nach Reformen und Meinungsfreiheit nagten an den Grundfesten des stalinistischen Greisen- und Karrieristenregimes und hätten es zweifellos aus dem Sattel gehebelt. Das war den Gescholtenen selbst am deutlichsten bewußt, kaum aber den Demonstranten und der westlichen Öffentlichkeit. Diese beharrt, so Scholl-Latour, auf ihrer naiven und eurozentristischen Vorstellung, daß wirtschaftlich-sozialer Fortschritt allein an Demokratie geknüpft sei.

Eine falsche Vorstellung, wie die Beispiele Japan, Korea, Taiwan und Singapur belehren. Dort herrsche eine „aufgeklärte Despotie“, wie sie auch für die Volksrepublik China wünschenswert sei. Pech für Scholl-Latour, daß sich der vermeintlich aufgeklärte Deng Xiaoping als Wolf im Schafspelz entpuppt hat. Über die Tücken weltverbessernder Despoten sollte gerade der Deutsch-Franzose besser Bescheid wissen.

Dunkel verschleiert wird sein Blick, wenn er die Beendigung der Demokratiebewegung (nicht die Mittel zu ihrer Beendigung) aus Gründen wünschenswerter politischer Stabilität gutheißt. Der angemahnte Mangel an durchsetzbaren Alternativen hätte ein kulturrevolutionsähnliches Chaos heraufbeschwören können. Dieses sieht der Verfasser durch Plünderungen hinreichend bestätigt, die während der Demonstrationen vorgekommen sind. Völlig absurd wird es, wenn er die Randalierer mit den „Roten Garden“ vergleicht und letztere in die Tradition der Bauernaufstände einreiht, die China regelmäßig im Laufe seiner langen Geschichte erschüttert hatten.

Wenig durchdachte Kurzschlüsse solcher Art finden sich häufiger in diesem Buch. Insbesondere die analogisierenden Querverweise auf die chinesische Tradition sind mitunter wenig geglückt. So ist etwa der Vergleich Maos mit Qin Shi Huangdi, dem ersten Herrscher der Qin-Dynastie (221-206 v.Chr.), in seiner Oberflächlichkeit wenig erkenntnisträchtig. Fragwürdig auch die Deutung des autoritär geführten legalistischen Qin-Staates als Präfiguration des Mao-Kommunismus.

Das Verfahren Scholl-Latours, Gegenwärtiges mit Vergangenem direkt in Verbindung zu setzen, hat etwas ungemein suggestives und verleiht seinen Argumenten den Schein historischer Gewichtigkeit. Doch werden die progressiven Entwicklungen zugunsten vermeintlicher mentalitätsgeschichtlicher Dominanten eingeschmolzen. Das Klischee einer in sich erstarrten und nicht entwicklungsfähigen Gesellschaft, das seit Hegels Verdikt in den Köpfen der Abendländer spukt, wird bestätigt. Vor diesem Hintergrund wird die Ungeheuerlichkeit des Massakers domestiziert: Es war ohnehin nichts anderes zu erwarten.

Interessant, wenngleich im Ton unerträglich, sind Scholl -Latours Beobachtungen zur Berichterstattung, die zu einem „apokalyptisch aufgebauschten Medienspektakel“ verkommen sei, während kein Hahn nach dem Genozid an den Kurden und den Grauen des Nahen Ostens krähe.

Die Kollegen in Peking, so Scholl-Latour, hätten Mangels Fronterfahrung das „Knattern einer Kalaschnikow nicht von einer Materialschlacht unterscheiden“ können. Wie die Lehrer und Studenten seien sie ob ein paar Kugeln in einen Zustand von „Massenhysterie“ verfallen und hätten die militärischen Aktivitäten grotesk übertrieben. Im übrigen seien sie von den friedvollen Demos an ihre Studentenzeit, die Zeit der seligen Sit-ins im sonnigen Kalifornien, erinnert worden. So hätten sie sich aus Sympathie mit den Protestlern solidarisiert und keinen objektiven Journalismus betrieben.

Das überaus emphatische Echo der chinesischen Studentenbewegung im Westen erklärt Scholl-Latour mit dem schlechten Gewissen der Linken, insbesondere der französischen, die am eifrigsten die Kulturrevolution gutgeheißen hatte. Die meisten von ihnen seien zwar nach dem Scheitern ihrer Ideale „dem Zynismus verfallen“. Andere aber „überschlagen sich in ihren Bekenntnissen zur Menschenrechtsdeklaration der ausgehenden Aufklärung“. Und diese 68er hätten sich nun statt der Mao- die Menschenrechtssticker an die Brust geheftet und genauso naiv - wie damals die Kulturrevolution - jetzt die Demokratiebewegung begrüßt.

Die Stärken dieses Buches liegen in seiner Materialfülle und den Reiseberichten. Zwei Texte von 1980 sind beigefügt, einer Zeit also, als hierzulande die zügige Öffnung des Landes begrüßt wurde. Geschickt werden hier sehr persönliche Eindrücke mit statistischen Fakten und allgemein Wissenswertem aus der Geschichte versetzt. Alles in allem ein lesenswertes Buch. Schade nur, daß der Autor so sehr von sich selbst beeindruckt ist, daß er keine Mittel scheut, dies dem Leser um jeden Preis verständlich zu machen.

Clemens Murath