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Der Mittelstand reißt's auch nicht raus

■ Die Hälfte der DDR-Handwerksbetriebe soll bald pleite sein / Auch die freien Berufe können den Wirtschaftskarren nicht aus dem Dreck ziehen / West-Verbände sind optimistisch, daß es nach den Anpassungsschwierigkeiten vorangehen werde

Von Claudia Wuttke

Brav hat der gescheiterte Wirtschaftsminister Pohl über Monate dem Mittelstand das Wort geredet, der den Karren aus dem Dreck ziehen sollte. Mehrere hunderttausend Arbeitsplätze versprach die Haussmann- und Diepgen-Voice kurz nach Amtsantritt, bevor sie schnell verstummte. Welcher Gaul vorn anzuspannen sei, um diese Meisterleistung zu vollbringen, ist derzeit noch ein Geheimnis.

Denn sogar die real existierenden mittelständischen HandwerkerInnen sehen die „Konkurslawine“ erst noch auf sich zu rollen - so Klaus Noack, Präsident des DDR-„Bundes der Selbständigen“. Er rechnet damit, daß die Hälfte dieser DDR -Betriebe bis Ende September vor dem Konkurs steht. ERP- und Eigenkapitalhilfen reichen zur Bestandssicherung nicht aus, klagt Noack, und zur weiteren Kapitalbeschaffung seien Sicherheiten notwendig. Dabei werde von den Banken aber nur Grund und Boden akzeptiert. Obwohl seit Juli der Kauf von Liegenschaften zulässig ist, laufe nichts, denn die Verordnung räumt den Kommunen ein Nachbewertungs- und Nachberechnungsrecht ein, schreibt Noack in der jüngsten Ausgabe des 'Berliner Merkur‘.

Die Industrie kämpft mit der „Nullarbeit“, und der Landwirtschaft fehlt das täglich‘ Brot ohnehin. Doch auch das Zugpferd Dienstleistungen, das sich neben der Bauwirtschaft als Hoffnungsträger Nummer eins zu gerieren hatte, scheuert sich an den alten Fesseln der Planwirtschaft und dem neuen Chaos des Marktes wund. Je nach Branche fehlt es, in unterschiedlichem Umfang, an dem Üblichen: an geeigneten Räumlichkeiten, an Startkapital für die Existenzgründung, an betriebswirtschaftlichen Kenntnissen und der rechten UnternehmerInnenpersönlichkeit. Hinzu kommen massive Probleme, denen auch mit zweitägigen Umschulungs oder Weiterbildungsmaßnahmen der westlichen VerbandskollegInnen nicht beizukommen ist: So gibt es in der DDR zwar 15.000 ausgebildete ArchitektInnen, was in Relation zur Einwohnerzahl etwa dem bundesdeutschen Niveau entspricht. Darunter sind aber nach Meinung des Sprechers der Architektenkammer in West-Berlin, Böttcher, nur wenige, die auf ausreichende Phantasie zurückgreifen können, um nach der Ära des Plattenbaues eigene Entwürfe vorzulegen. Die Ausbildung in der DDR konzentrierte sich auf die planmäßige Bauausführung.

Die Aufzählung läßt sich fortsetzen: Hunderte von ausgebildeteten ÄrztInnen waren in den Kreis- und Gemeindeverwaltungen mit der Zuteilung von Gerätschaften an die Polikliniken und Ambulatorien beschäftigt. Die Bankkaufleute in der DDR waren in erster Linie für eine Tätigkeit im Spar- und Zahlungsverkehr qualifiziert. ApothekerInnen sind häufig ausgebildete Pharmazie -IngenieurInnen, die ihre Rezepturen noch selbst zusammenmischen. Diese Fähigkeit ist - leider - in der BRD kaum mehr gefragt. Dort stehen 130.000 Medikamente bereits abrufbereit in den Regalen, während in der DDR die Apothekerschränke gerade mit knapp 3.000 Mitteln gefüllt sind.

Die AnwältInnen müssen im Schnellkurs bundesdeutsches Recht erlernen, ebenso die SteuerberaterInnen, WirtschaftsprüferInnen, Unternehmens- und PersonalberaterInnen. Letztere gab es im alten Staat nicht. Lediglich im Software-Bereich wurden im vergangenen halben Jahr 1.200 Existenzgründungen verzeichnet. Aber Produktion und Verkauf der digitalen Zeichen seien „zweierlei Paar Schuhe“, kommentiert Norbert Küster, Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Unternehmensberater.

Das heißt nicht, daß den apokalyptischen Prophezeiern das Wort geredet wird. Es heißt aber auf jeden Fall, daß der durch den „Mittelstand initiierte Aufschwung“ noch länger auf sich warten läßt, als den Vereinigungspotentaten lieb ist.

Dabei bleibt unbestritten, daß in den genannten Branchen dringender Bedarf an Fachkräften besteht. Heinz Otto, Geschäftsführer der Gemeinschaft aktiver deutscher Apotheker und Apothekerinnen in Frankfurt/Main, läßt die Statistik für sich sprechen: 4.000 ApothekerInnen gibt es derzeit in der DDR. In der BRD stehen 35.000 Fachkräfte hinter dem Gesundheitstresen. Grob hochgerechnet kann sich die Zahl der KollegInnen also getrost verdreifachen, um einen der Bundesrepublik entsprechenden Versorgungsstand zu erreichen.

Doch der Weg dorthin ist zunächst steinig und für viele nicht ohne schmerzhafte Erfahrungen begehbar. Das Apothekerzentrum in Frankfurt/Oder zum Beispiel zählt insgesamt 40 Beschäftigte, davon zehn ApothekerInnen. Die Personalkosten liegen bei etwa 30 Prozent der Gesamtaufwendungen und betragen damit das Dreifache des Bundesdurchschnitts.

Die Altplaner des bürokratischen Wasserkopfes kaschierten ihre Arbeitslosenzahlen eben mit überhöhter Personalzuweisung. Drei bis vier HelferInnen für den Apotheker, die Ärztin oder den Architekten sind üblich. Der bundesdeutsche Freiberufler kommt mit zweien aus.

Und weil er sich in keine Tauschwertkategorie pressen läßt, haben die Marktwirtschaftsschreier aus Oggersheim oder sonstwoher noch den einen wesentlichen Posten übersehen: Die „salvatorische Klausel“ - wenn der Grundsatz sich ändert, muß man sich anpassen - findet noch keine ökonomische Anwendung in der DDR. Gewiß, es gibt sie, die engagierten ExistenzgründerInnen, die ihre Chance jetzt nutzen und sich an den Ecken und Kanten des Wettbewerbs nicht allzusehr stoßen. Doch sind sie in der Minderheit.

Unisono werden Klagen laut über mangelnde Risikobereitschaft, fehlende Überzeugungskraft und nicht vorhandenes Konkurrenzdenken. Wieso sich nach einem geeigneteren Standort für die neue Apotheke umsehen, hat man doch in der alten am Stadtrand bisher ganz gut gelebt, pointiert Otto die Haltung seiner Ost-KollegInnen. Daß die so zu spät Kommenden vom Leben in Gestalt von künftigen Umsatzeinbußen bestraft werden, wird nicht gesehen.

Freilich, Optimismus ist am Platze. 1.400 Rechtsanwälte haben ihre Existenzgründung bereits angemeldet, einige Tausend werden noch gebraucht. Die Bankstellendichte in der DDR ist nur halb so groß wie in der BRD. 50.000 Arbeitsplätze in Geldhäusern könnten noch geschaffen werden. Unternehmensberatung im weitesten Sinn hat es nicht gegeben. Auch hier schlummern Einsatzmöglichkeiten. Aber, einmal durch die Einführung der D-Mark wachgeküßt, braucht Dornröschen Zeit, die eingerosteten Glieder wieder gelenkig zu schmieren.

Und die MedizinerInnen beispielsweise werden sich nicht vor dem 1. Januar 1991 spürbar rekeln. Erst dann nämlich verliert die aktuelle Gebührenordnung ihre Gültigkeit, wird der einheitliche Bewertungsmaßstab der BRD und damit das satte Einkommensniveau übernommen. Inwieweit vom Niederlassungsrecht Gebrauch gemacht werden wird, hängt allerdings auch noch von der Höhe der Punktwerte ab, also der Einzelleistungsvergütung.

In der BRD waren in der statistischen Kategorie „Dienstleistungen von Unternehmen und freie Berufe“ im vergangenen Jahr 6,3 Millionen Menschen beschäftigt. Wirkliche Vergleichszahlen aus der DDR sind nicht vorhanden; der derzeitige Zustand des DDR-Mittelstandes bleibt also weitgehend im Dunkeln. Aussagen über seine konjunkturtreibende Kraft bleiben infolgedessen spekulativ. „Ob das Geschäft mit den Dienstleistungen den Aufschwung bringen wird, kann gegenwärtig kein Politiker beantworten,“ meint DDR-Expertin Margret Thiele vom Statistischen Bundesamt. Doch, einer kann! Der derzeit amtierende BRD -Wirtschaftsminister. Und ob er schon wandert im finsteren Tal, Helmut Haussmann fürchtet kein Unheil.

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