Schweißiges Gewühl am Kudamm

■ Tausende von Menschen drängelten sich am Wochenende auf der „Europarty 90“ / Höhepunkt zwischen Rostbratwurst und Fischbrötchen: das zwölfstündige Tanzmarathon

West-Berlin. „Wo is‘ denn Karl schon wieder?“ Umdrehen, gucken, brüllen, starren, suchen - in dem Gewühle auf der „Europarty 90“, dem riesigen Freß-Sauf-Kaufrausch-Gelage zwischen Wittenbergplatz und Uhlandstraße, ging am Wochenende schnell mal jemand verloren. Tausende von Menschen drängelten sich bei mildem Sonnenschein auf den 1.300 Metern herum, eingekeilt zwischen Krakauer Rostbratwürsten, französischen Crepes und praktischen Übertöpfen mit vier Metern Durchmesser, bedröhnt von russischen Volksklängen der Gruppe „Svoya Igra“, peruanischer Andenmusik und HipHop aus dem „West-Power -Tower“ - alles auf einmal. Am Stand mit der Aufschrift „Rettet die Elefanten“ war Karl leider genausowenig aufzutreiben wie bei den Horoskopen. Möglicherweise hatte er sich zu einem der Höhepunkte des Festes gequetscht, dem 12stündigem Tanzmarathon gegenüber vom „Kranzler“, organisiert von der unterbezahlten Musikwelle des SFB, Radio 4U. „Eh, Mädel, biste müde? Zeig mal 'n bißchen was!“ dröhnte es hier unbarmherzig aus dem sich vor der Tanzfläche drängenden Publikum (Karl?), während 16 verschwitzte Paare schon seit 10 Uhr früh ihre Bewegungen angestrengt lächelnd dem Takt der unbarmherzig hämmernden House-Music anpaßten. Fabiola (16) und der 18jährige Campino - „mein Spitzname, wie der Sänger von den Toten Hosen!“ - machte es dennoch „tierischen Spaß“. Die zierliche Fabiola mit den unvermeidlichen schwarzen Fahrradhosen und der Football -Spieler hatten sich am Morgen erst kennengelernt: „Sie hat mich einfach gefragt, und da hab‘ ich mitgemacht.“ Ihr Ziel: mit der Nummer 975 wenigstens auf den dritten Platz zu kommen.

Für Sabine Wahrmann, Moderatorin bei 4U und Mitorganisatorin des Marathons, waren die beiden schon am Nachmittag die absoluten Favoriten: „Die haben vorhin einen Lambada hingelegt, traumhaft...“ Endgültig entschieden hat jedoch (nach Redaktionsschluß) die zweiköpfige Jury aus dem „Ufo-Club“. „Die Power muß einfach permanent da sein“, erklärte Achim Kohlberger, „da kommt es drauf an, wie relaxed und erotisch die dabei sind!“

Immerhin - für die Gewinner standen 1.000 Mark auf dem Spiel, 300 Mark für die Zweiten und dann noch dreimal 100 Mark. Bamm, bamm, bamm, Disco, Disco, Disco, Rap, Rap, Rap, „Ihr seht ja etwas lahm aus!“ tönte Antje Tiemeyers Stimme durchs Mikrophon, und weiter gings, fünf Stunden noch, bam, bam, bam. Martina (24) und Andreas (27), das Paar mit der Nummer 993, waren zu diesem Zeitpunkt schon etwas blaß um die verschwitzte Nase, während sich die 23jährige Ann noch immer „wie im Rausch“ fühlte. „Meine Beine sind zwar schon etwas schwer, aber man kann ja zwischendurch eine Auszeit nehmen und aufs Klo gehen, ich bin total glücklich, daß ich hier mitgemacht habe!“ Von den am Rande aufgebauten Käse und Wurstbrötchen konnten sich die TänzerInnen jederzeit bedienen, während die Publikumsscharen abwechselnd die Akteure auf der Tanzfläche und fettige Fischbrötchen verschlangen. „Wieso haben die hier die Tanzfläche abgesperrt?“ mäkelte einer, während ein älterer Herr - war das etwa Karl? - einfach beherzt über die rot-weiße Banderole sprang und sich zufrieden lächelnd unter die Tanzenden mischte. Zufrieden auch Sabine Wahrmann: „Ich hatte schon befürchtet, daß hier nur so Langeweiler wegen der Kohle kommen, aber die sind hier echt alle prima drauf!“ Nur von Karl fehlte immer noch jede Spur.

maz