: Polikliniken in die Selbstverwaltung entlassen
■ Bundesdeutsches Recht gefährdet das Überleben der Polikliniken / Reformidee für DDR-Gesundheitswesen vorgestellt
Potsdam (taz) - Warnstreiks und eine Protestdemonstration vor dem Gesundheitsministerium in Berlin hat der Dachverband der Polikliniken e.V. für den kommenden Dienstag um 14 Uhr angekündigt. Gefordert wird die Gleichstellung der 20.000 in Polikliniken und ähnlichen Einrichtungen angestellten Ärzte und Mitarbeiter gegenüber den niedergelassenen Ärzten. Am Dienstag nachmittag läuft im Ministerium die letzte Verhandlung zum Kassenvertragsgesetz.
Die Zulassung der Polikliniken für die nächsten fünf Jahre, wie sie der Überleitungsentwurf des Bundesarbeitsministeriums vorsieht, ist nicht ausreichend. Durchgesetzt werden müssen gesetzliche Regelungen, nach denen alle an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, ob in der Poliklinik oder der freien Niederlassung, Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) werden können.
Die KV ist ein Organ ärztlicher Selbstverwaltung, das mit den Kassen die Bezahlung medizinischer Leistungen der Kassenärzte aushandelt. Da in der Bundesrepublik die ambulante Versorgung im Gegensatz zur DDR fast ausschließlich von niedergelassenen Ärzten getragen wird, ist die Interessenvertretung durch die KV auf sie zugeschnitten. Bei bloßer Übernahme dieser Regelung sind in der DDR die medizinische Betreuung, Tausende Arbeitsplätze und die Reform des Gesundheitswesens gefährdet. Abgesehen davon würde eine Bevorzugung der Ärzte in freier Niederlassung, die hier in der Minderheit sind, demokratischen Prinzipien widersprechen.
Auf diesen Zusammenhang machten Vertreter des Dachverbandes der Polikliniken am Wochenende auf einer Veranstaltung in Potsdam aufmerksam. Einen Entwurf über die Reformierung des ambulanten Gesundheitswesens stellte Dr.Klaus Günther, Vorstandsmitglied und Chefarzt an der Poliklinik „Friedrich Wolf“ in Berlin, den anwesenden Ärzten vor.
taz: Was beinhaltet der Entwurf?
Dr.Klaus Günther: Der Entwurf sieht eine Reform vor, die - ausgehend von dem jetzt in der DDR Vorhandenen und Möglichen - eine ausreichende ambulante medizinische Betreuung der Bürger sichert. Dabei muß dem noch geltenden DDR-Recht und dem zukünftig gültigen bundesdeutschen Recht zum Beispiel Sozialgesetzbuch Teil 5, dem Kostendämpfungsgesetz usw. - entsprochen werden. Polikliniken in herkömmlicher Form können danach nicht existieren.
Es müssen Gesundheitszentren entstehen, die zum einen die kassenärztliche Versorgung sicherstellen, zum anderen aber auch in der Lage sind, Funktionen der Gesundheitsämter und Sozialstationen zu integrieren oder betriebsärztliche Aufgaben in freier Vereinbarung mit den Betrieben wahrzunehmen. Daraus ergeben sich unterschiedliche Finanzierungsquellen. Das wäre im Rahmen der kassenärztlichen Tätigkeit die Abrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung, an der unsere Kollegen voll beteiligt sein müssen. Ausgaben bei der häuslichen Krankenpflege wären vom Krankenversicherungsträger zu erstatten, die von den Gesundheitsämtern übernommenen Leistungen muß die Kommune bezahlen.
Es gibt den Begriff der „dualen Finanzierung“, der bei den niedergelassenen Ärzten den Vorwurf provoziert, Polikliniken würden Wettbewerbsvorteile eingeräumt.
Duale Finanzierung bedeutet, daß die laufenden Kosten aus der Bezahlung der medizinischen Leistungen erbracht werden, die Werterhaltung und Investitionen aus Mitteln der öffentlichen Hand kommen. Diese Möglichkeit hätten Ärzte in freier Niederlassung nicht. Wollen wir gleiche Wettberwerbschancen haben, ist dieser Weg nicht gangbar. Eine Mitbeteiligung der Kommune an Gesundheitszentren - etwa im Sinne eines kommunalen Eigenbetriebes - ist nicht ausgeschlossen, aber es gibt andere Formen der Trägerschaft. Ich denke dabei an Stiftungen oder die Ärzte-GmbH. Es müssen gleiche Arbeitsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten für Ärzte in Gesundheitszentren und in freier Niederlassung gesichert sein. Wir streben von uns aus keine Rivalität zwischen beiden an.
Was ist aus dem Entwurf geworden?
Er ist Ende Juli dem Ministerium zugeleitet worden. Eine Antwort von dort liegt uns noch nicht vor. Allerdings hat uns der zuständige Dezernent im Gesundheitsministerium auf Rückfrage gestattet, daß über diesen Entwurf diskutiert werden darf.
Der Dachverband der Polikliniken hat zur Bildung Kassenärztlicher Vereinigungen auf dem Gebiet der DDR aufgerufen. Wie soll das ablaufen?
Die Schwierigkeiten bestehen darin, daß es ein entsprechendes Gesetz noch nicht gibt. Zur Zeit kann die KV nur als eingetragener Verein entstehen, der im Grunde keine rechtlichen Kompetenzen hat. Jedem steht es frei, einen solchen Verein zu gründen. Wer aber ist dann überhaupt berechtigt, die Ärzte zu vertreten, denn in jedem Bezirk und Land kann es nur eine derartige Struktur geben. Eine Wahl solcher Gremien unter Berücksichtigung aller kassenärztlich tätigen Ärzte wäre kein Problem, müßte aber von seiten der Kommune angeschoben werden.
Die Ärzte müssen entsprechende Forderungen an die Kommune stellen. Bringt das nicht weiter, bleibt nur der Weg über diese Vereine. Ganz besonders schwierig wird es in Berlin, weil hier die KV West den Alleinvertretungsanspruch ohne Neuwahlen auch für Ost fordert und damit Mitarbeiter in den Polikliniken benachteiligt werden.
Interview: Irina Grabowski
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen