: Probleme mit der Nahrungsaufnahme
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist in der bulgarischen Hauptstadt Sofia eine Volksküche ins Leben gerufen worden. Die Organisatoren, der Gewerkschaftsverband Podkrepa, betrachten die Aktion als einen Probelauf im Hinblick auf den nächsten Winter, der hart zu werden verspricht. Selbst während der Sommermonate verschlechterte sich die Lebensmittelversorgung der bulgarischen Bevölkerung ständig. Doch die Sorgen der Bulgaren sind im Vergleich zu den Problemen, die wir Deutschen mit der Nahrungsaufnahme haben, wirklich kaum der Rede wert.
Zur Erbauung der gelangweilten und gemästeten Germanen gibt es in
diesem Land der Butterberge und Weinseen den ebenso schönen wie überflüssigen Beruf des Gastrokritikers. Ein Gastrokritiker ist ein Testesser, der dafür bezahlt wird, sich auf Kosten anderer in Luxusrestaurants den Bauch vollzuschlagen und nachher darüber öffentlich zu meckern. Die berufsbedingten Vielfraße sind gnadenlos. So hatte z.B. ein gewisser „Ludwig Esser“, nach einem Abend in einem Spitzenrestaurant in Lippstadt einen vernichtenden Verriß geschrieben. Dem Besitzer des Lokals schlug der Artikel derart auf den Magen, daß er klagte. Vor dem Oberlandesgericht Hamm verlor er jetzt den Prozeß. Der Antrag auf Unterlassung, mit dessen Hilfe dem Testfresser verboten werden sollte, seine Werturteile zu wiederholen, und der Antrag auf Schadenersatz wurden abgewiesen. Der Restaurantchef hatte
behauptet, nach der „Schmähkritik“ seien seine Umsätze so stark zurückgegangen, daß er das Lokal habe schließen müssen. Die Richter entdeckten jedoch keine Verstöße. Sicher sei es „nicht gut fürs Image“, in der Zeitung lesen zu müssen, in dem
Restaurant sei der Tisch wacklig, das Brot aufgebacken, die Butter übersalzen und das Mineralwasser ausgegangen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei nicht überschritten. Selbst Sätze wie „denen trocknet doch am Herd das Hirn aus“ gehörten zur Umgangssprache, seien aber keinesfalls eine üble Nachrede. Die Aussagen zielten schließlich nicht auf eine persönliche Diffamierung des Klägers, sondern dienten „dem Ziel, Meinungsbildung im gastronomischen Bereich zu veranlassen“. Und das ist natürlich ehrenwert.
Ich schlage vor, die Meute der Berufsgourmets den Winter über nach Sofia in die Volksküche zu schicken. Das würde den Horizont ihrer Gaumen erweitern, und die Bulgaren würden sich für diese Art praktischer Entwicklungshilfe bestimmt erkenntlich zeigen.
Karl Wegmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen