„Ein bißchen muß es schon weh tun“

■ Warnstreik der Öffentlich-Bediensteten ließ Treiben in der Stadt stocken / Nutznießer: Reichsbahn und Taxis

Berlin. Am Bahnhof Friedrichstraße herrschte Chaos. Bei herbstlichem Wetter liefen jede Menge bunte Regenschirme durcheinander, unter denen es ärgerlich brummelte: „Ick wollte einsteigen, aber se ham mich nich‘ ringelassen“, beschwerte sich ein Mann im blauen Arbeitsanzug. „Is doch 'ne Schweinerei!“

Die Busse fuhren nicht. Wo sie sich gerade befanden, als gestern um 11 Uhr der von der ÖTV organisierte Warnstreik im öffentlichen Dienst begann, blieben sie stehen. Die Volkspolizei hatte gerade noch daran gedacht, das Abstellen der Fahrzeuge auf Kreuzungen zu untersagen. „Einige gewitzte Kollegen wären bestimmt genau da stehengeblieben“, wußte ein Busfahrer, „schließlich soll es doch weh tun.“ Aber gemeckert hätten seine Fahrgäste kaum, als sie aussteigen mußten. An der Bushaltestelle schimpften sie dafür um so lauter: „Wie soll ich denn nach Hause kommen?“, „Die verdienen doch bestimmt genug!“

Auch die U-Bahnen standen still. Doch dort war es leicht, den Schimpfereien zu entgehen, die Streikenden hatten einfach die Gitter geschlossen. Vor so einem Gitter der Linie 6 standen mindestens 50 Leute und warteten murrend, bis es weiterging. Unverständnis herrschte vor allem über das Schild: „Warnstreik ÖTV“. „Das sind doch die im Westen, was hat das mit uns zu tun?“

Um ihre Arbeitsplätze haben die Busfahrer an der Friedrichstraße keine Angst. „In der Verwaltung sitzen eh zu viele“, so ein Fahrer. Schlechtere Aussichten könnte ein Feuerwehrmann mit angeschlagener Gesundheit haben: „Solche Leute werden im Moment sofort rausgeschmissen“, klagte er, „um Platz zu machen für die Offiziere.“ Denn um nicht entlassen zu werden, drängen sich jetzt die Vorgesetzten vor, um einen Platz im Feuerwehrwagen zu ergattern.

Nutznießer des Streiks waren Reichsbahn und Taxen. Auf den Bahnsteigen der S-Bahn drängten sich die Fahrgäste, am Taxistand florierte das Geschäft: „Von mir aus“, grinste ein Taxifahrer, „könnten die noch den ganzen Monat streiken.“

„Heute Warnstreik“, so stand es auch an einem der Backstein -Verwaltungsgebäude des Renommier-Krankenhauses Charite. zumindest ein Vertreter der Ärzteschaft soll auf der Kundgebung gewesen sein, berichtete seine Sekretärin. Ansonsten aber schien kaum ein Weißkittel zu streiken. Die Sekretärin des Oberarztes der Allgemeinen Chirurgie im sechsten Stock des Neubaus wußte „gar nicht, daß gestreikt wird“, eine Mitarbeiterin der Hals-Nasen-Ohren-Klinik hatte von dem Warnstreik „erst morgens im Radio gehört“.

Auch Kurt Lange, Vorsitzender der Berliner ÖTV, mußte sich auf der zentralen Warnstreik-Kundgebung von MitarbeiterInnen der Magistratsverwaltung „Finanzen“ den sanften Rüffel gefallen lassen, „daß die ganze Aktion wohl etwas kurzfristig“ gewesen sei. Dennoch erschienen Tausende von Beschäftigten im öffentlichen Dienst vor dem Amtssitz des DDR-Regierungschefs Lothar de Maiziere, um unter tösendem Sirenenkonzert den raschen Abschluß eines Tarifvertrages zu fordern. Im öffentlichen Dienst, wetterte Lange, hätten die Arbeitnehmer bis zu 300 Mark monatlich weniger als vor der Währungsunion. „Macht das Fenster auf“, dröhnte der Ostberliner Gewerkschafter Norbert Stirnal, „damit die uns auch hören!“

Um 12 Uhr war der Spuk vorbei. Die Busse fädelten sich wieder in den Fahrplan ein, und auf den U-Bahnhöfen wurden die Tore geöffnet. „Verteilen Sie sich über den gesamten Bahnsteig“, quäkte der Lautsprecher. „Es kommt ja gleich die nächste Bahn“, schimpfte eine Zugfahrerin. „Daß die es alle so eilig haben!“

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