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Falsche Symbolik

■ Prager Frühling: Nach 22 Jahren ist der Sozialismus mit menschlichem Antlitz out

Oh Gott, diese Gedenktage. Wenn Polizisten(!) am 22.Jahrestag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei mit Hilfe eines Krans einen Panzer umstürzen, auf dessen Unterseite dann die Solidarnoscfahne und die Nationalflagge der CSFR auftauchen, dann ist eine politische Symbolik geschaffen, die für sich selbst spricht. Angesichts solcher Untaten mag der tschechoslowakische Betrachter zwar die Erkenntnis gewinnen, daß die jüngste Geschichte, einmal ins Museum gestellt oder von offiziellen Happenings mißbraucht, nichts mehr mit der erfahrenen Geschichte zu tun hat, wenn sie in das Korsett der Geschmacklosigkeit gezwungen ist. Doch nicht einmal diese „Feier“ wird das Nachdenken über 1968 und seine Folgen in Prag und Bratislava verhindern können.

Im Konflikt zwischen den beiden wichtigsten Gestalten der tschechoslowakischen jüngsten Geschichte, nämlich dem zwischen Vaclav Havel und Alexander Dubcek, der schon kurz nach der samtenen Novemberrevolution von 1989 aufblitzte doch aus realpolitischen Gründen bald wieder zugedeckt wurde - ist die Erkenntnis freigesetzt worden, daß kaum noch Inhalte des Prager Frühlings '68 im Herbst '89 brauchbar waren. Die Ideologie des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, die noch 1968 weit über die Grenzen der damaligen CSSR hinaus die Hoffnungen vieler Linker beflügelte, hätte sich auch ohne sein Ende durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen in den Augen der Revolutionäre von 1989 überlebt. Mit dem Einmarsch sind nicht die „Chancen für einen echten realen Sozialismus“ begraben worden, sondern lediglich die Hoffnungen darauf.

Begraben wurden die Ausssichten der tschechoslowakischen Gesellschaft, den Anschluß an die Entwicklung der hochindustrialisierten Länder zu halten. Die ökonomischen und geistigen Fundamente der Tschechoslowakei, die noch in den dreißiger Jahren zu den High-Tech-Nationen zu zählen war und deren Währung zu den stabilsten der damaligen Zeit gehörte, wurden erst durch die deutsche Besatzung und den Krieg, dann durch die Herrschaft der Stalinisten so weitgehend zerstört, daß heute nur mit den größten Anstrengungen das Gefälle zum Westen minimiert werden kann. Nach 1968 wären die Aussichten dafür noch günstiger gewesen. Noch zeichnen sich auch für die neue Regierung und den Präsidenten selbst gerade nur die Konturen für die notwendige neue Politik ab. Denn in einem Land, in dem allein die Jugend und einige wenige 68er-Persönlichkeiten nicht verbogen wurden, fehlt das „Know-how“ für eine neue Politik in der gesamten Gesellschaft. Und weil dies so ist, muß in Prag weiterhin Geschichte gemacht werden.

Erich Rathfelder

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