„Man stürzt von einem Graben in den anderen“

■ Wenn ein kapitalistischer Manager eine staatsmonopolistische Ökonomie privatisieren will / Chef der Treuhand-Anstalt, Gohlke, hat aufgegeben

Genau fünf Wochen stand Reiner Gohlke an der Spitze des größten Konzerns der Welt. Rund 8.000 DDR-Betriebe mit mehr als sechs Millionen Beschäftigten sollte der ehemalige Bundesbahnchef in eine marktwirtschaftliche Zukunft führen nach den Vorgaben der DDR-Regierung mit möglichst wenig Verlusten an industriellen Kapazitäten und an Arbeitsplätzen.

Es war eine Aufgabe, um die er von keinem der westdeutschen Spitzenmanager beneidet wurde. Denn zu diesem Zeitpunkt gab es kaum gesicherte Daten über den wirklichen Zustand der DDR -Betriebe. Gohlke versprühte demonstrativen Optimismus: Die Chance der DDR-Wirtschaft liege in ihren „hervorragenden Ressourcen“ und in den „gut ausgebildeten Leuten“, erklärte der erfahrene Bundesbahn-Sanierer zum Amtsantritt. Auf vier Jahre hatte er seinen Vertrag abgeschlossen.

Die Ernüchterung stellte sich schon nach wenigen Tagen ein. „Die Lage ist schlechter, als ich angenommen habe“, ließ er nach zwei Wochen in der Treuhand-Chefetage am Berliner Alexanderplatz verlauten. „Wir haben ein Chaos, nichts läuft normal. Man stürzt von einem Graben in den anderen“, beschrieb er den sich anbahnenden Kollaps der DDR -Wirtschaft. Es gebe nach seinem jetzigen Erkenntnisstand nicht einen einzigen konkurrenzfähigen Betrieb in der DDR, fügte er hinzu. Und schnell waren auch die vorherigen Berechnungen über den Finanzbedarf der Treuhand über den Haufen geworfen. Der ursprünglich für drei Monate veranschlagte Kreditrahmen der Treuhand in Höhe von 10 Milliarden Mark war schon im ersten Monat aufgebracht, fast ausschließlich zur Liquiditätssicherung der DDR-Betriebe, die nur so in der Lage waren, ihre Löhne zu zahlen. Keine müde Mark ist dagegen in zukunftssichernde Investitionen geflossen, die allein ein Überleben der Betriebe garantieren könnten.

Spätestens im August, so kündigte Gohlke daraufhin an, sei Schluß mit dem Gießkannenprinzip. Betriebe, die nicht zu retten seien, sollten nun nicht weiter unterstützt werden. Aber die Treuhand erwies sich als unfähig, innerhalb eines Monats tatsächlich die Guten ins Töpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen zu sortieren.

95 Prozent der Betriebe noch ohne Zukunftsbilanz

Nur für rund 200 DDR-Betriebe gibt es nach Informationen der Treuhand bislang konkrete Kooperations- und Übernahmeangebote durch westliches Kapital, für rund 120 Betriebe gibt es konkrete Verhandlungen. Ebenfalls 200 Betriebe sind inzwischen nicht sanierungsfähig bezeichnet.

Bleiben die rund 7.600 Betriebe, von denen die meisten bislang noch nicht einmal auf ihre Bilanz und ihre Zukunftschancen überprüft werden konnten. Bis Mitte August, so heißt es, sei dies erst bei rund fünf Prozent aller Betriebe geschehen. Soll man all diese Betriebe weiterhin mit milliardenschweren Liquiditätskrediten in der Gewißheit über Wasser halten, daß ein Großteil dieser Betriebe die nächsten Monate nicht überleben wird?

Seit ihrer Gründung im März durch die Regierung Modrow wurde die Treuhandanstalt wegen ihrer angeblich zu schleppenden Arbeit kritisiert. Aber erst seit dem 1. Juli, dem Beginn der Währungsunion, läuft den Sanierungsstrategen der DDR-Wirtschaft die Zeit in rasender Eile davon. Denn seit diesem Tag sind die DDR-Betriebe ungeschützt der Konkurrenz aus dem Westen ausgesetzt. Sanierungskonzepte aber lassen sich nicht in wenigen Wochen erarbeiten, während die Verbrauchermärkte in der DDR sich in wenigen Tagen schlagartig auf Westwaren umgestellt haben. Die Folge ist, daß auch solche Betriebe nun in Bedrängnis gekommen sind, für die eine realistische Überlebenschance bestanden hätte.

Schließlich wird von westlicher Seite immer wieder das Problem der ungeklärten Eigentumsverhältnisse in der DDR als Hemmnis für Investitionen und Kredite genannt. Auch die mangelnde Klarheit bei der Übernahme ökologischer Altlasten läßt westliche Investoren vorsichtig abwarten. Die Lösung all dieser Probleme liegt allerdings nicht bei der Treuhand, sondern bei den Regierungen der DDR und der BRD.

Um die Arbeit der Treuhand zu effektivieren, hat Gohlke seine öffentlich-rechtliche Anstalt noch im August einer Radikalkur unterworfen. 15 Treuhand-Außenstellen in der DDR -Provinz wurden geschlossen, über 1.500 ihrer Beauftragten auf die Straße gesetzt. Statt dessen sollten nun bundesdeutsche Gutachter an ihre Stelle rücken. Ob dies allerdings die erhoffte Beschleunigung in die gutachterliche Herkules-Arbeit bringt, ist noch offen.

Jeder weitere Monat verschärft die Situation: Werden weiterhin Liquiditätskredite nach dem Gießkannenprinzip ausgeschüttet, kostet das unabsehbare Milliardenbeträge. Werden die Kredite kurzfristig verweigert, dann müssen weit mehr als die zunächst vorhergesagten 30 Prozent der DDR -Betriebe schon in wenigen Wochen ihre Segel streichen.

Ende mit Schrecken...

Die Empfehlungen aus Bonn sind eindeutig: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, keine Treuhandgelder mehr ohne gleichzeitige Sanierungsaktivitäten. Die weitreichende Kurzarbeiterregelung in der DDR dürfe der Wirtschaftssanierung nicht im Wege stehen. Wenn Gohlkes Nachfolger Rohwedder nach dieser Devise verfährt, wird die Treuhand in kurzer Zeit einen großen Teil ihrer 8.000 Betriebe aus ihrer Obhut entlassen: in den Konkurs.

Martin Kempe