Rabenmütter und Rabenväter

■ 40.000 Mal mußte der Suchdienst des DRK zahlungssäumige Väter in der BRD ausfindig machen Freiheitsbegriff, materielle Vorzüge - Beweggründe, um Verantwortung abzuschütteln

Von Elisabeth Weymann

Noch immer gehen „Hilfeschreie“ republikweit bei den Behörden ein: Verzweifelte Bitten, nach verschwundenen Vätern und Müttern zu suchen, die in den Westen übersiedelten. Deutschlands Öffentlichkeit empörte sich monatelang, als die Ausreisemöglichkeit vielen Freiheitsbedürftigen Gelegenheit bot, sich der mißliebigen Vergangenheit zu entledigen, einen Neuanfang zu starten. Kinder wurden einem Waisenschicksal überlassen, Mütter waren plötzlich „alleinstehend“, weil die unterhaltspflichtigen Väter ihre Familien wie ein Hemd abgestreift hatten. Während die etwa 100 Fälle „kurzfristig verwaister“ Kinder in Ost -Berlin wie ebenso vergleichbare Schicksale in der DDR größtenteils gelöst werden konnten, wiegt eine deutsch -deutsche „Erblast“ noch schwer. Rund 40.000 Mal mußte der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) eingeschaltet werden, um zahlungssäumige Väter in der BRD ausfindig zu machen.

Die Problematik, welche die Grenzöffnung mit sich brachte, hat zwei erschreckende Seiten. Was die in Ost-Berlin zurückgelassenen Mädchen und Jungen anbetrifft, die zunächst bei Bekannten, Verwandten, in Heimen und anderen Einrichtungen untergebracht werden mußten, so ist deren Situation dank der Bemühungen der Jugendhilfe-Abteilungen in den Stadtbezirken und der zentralen Stelle beim Magistrat sowie bundesdeutscher und Westberliner Behörden geklärt. Die Eltern wurden gesucht, die Kinder zurückgeführt. In wenigen Fällen sind die Schützlinge zur Adoption freigegeben worden, noch im Heim oder Verwandte kümmern sich um sie. Freiwillig meldeten sich bei den in Ostberliner Heimen untergekommenen Kindern nur wenige Elternteile. Nach den meisten mußte regelrecht „gefahndet“ werden.

Warum tun Eltern so etwas? „Politische Motivation, Freiheitsbegriff, materielle Vorzüge, spontaner Entschluß“ die Jugendhilfeleiterin Rita Jahn nennt unscharf mögliche Beweggründe. „Sie hielten es für unerträglich, in der DDR zu bleiben, aber ihren Kindern muteten sie es zu“. Kinderheimleiter führen unter anderem auch „asozialen Lebenswandel“ in Familien als Argument an. In zwei bis drei Fällen in Ost-Berlin kam und kommt es zu Sorgerechtsentzug nach Paragraph 51 des Familiengesetzbuches. Der klammheimliche Umzug von Ost nach West war dabei allerdings nicht ausschlaggebend. „Schweres, schuldhaftes und wiederholtes Vernachlässigen“ der Nachgeborenen sind nach Frau Jahn die Kriterien für diese letzte, schwere Maßnahme, die die Jugendhilfe bei den Stadtbezirksgerichten beantragen muß. Das Weggehen der Eltern kam zur akuten Notlage nur noch hinzu.

Die Klage der Westberliner Senatsverwaltung Frauen, Jugend und Familie ist die Klage des DRK-Suchdienstes in München und seines Pendants in Ost-Berlin: Die Suche nach den Zehntausenden von unterhaltspflichtigen, abgetauchten Erziehungsberechtigten ist mühselig und langwierig. Gabriele Kämper von der Pressestelle der Senatsverwaltung stöhnte: „Unsere Bemühungen nach der Suche vermißter Berliner Eltern sind nicht von Erfolg gekrönt gewesen“. Was nützte da eine pauschale Sammelklage „gegen Unbekannt“ bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichtes in West-Berlin, mit der sich aufgebrachte Bürger und Bezirksräte Luft machten? Schuld am Mißerfolg sei das dezentrale Meldesystem in der Bundesrepublik und West-Berlin, das - nach Gemeinden strukturiert - keine die Bundesländer übergreifende Registrierung kenne (die DDR hingegen hat ein solches einheitliches Melderegister). Es ist erforderlich, Tausenden Anfragen und Hinweisen nachzuspüren, ehe die Jugendämter die Einzelfälle betreuen können.

Edith Schulenburg vom Ostberliner DRK erhält heute täglich 100 „lange, traurige“ Briefe zu entschwundenen Verwandten. Doppelt so viele fluteten ins Haus, als die „Völkerwanderung“ nach Grenzöffnung einsetzte. Mit ihrem reduzierten Mitarbeiterstamm bewältigt sie die Arbeit nicht mehr und vermittelt jetzt nach München, wo das DRK zentral die Suchanfragen sammelt.

Die Flucht vieler vor Verantwortung aktualisiert außerdem noch eine unter Juristen kontrovers debattierte Crux im Rechtsstaat: Eine vorgeschriebenene polizeiliche Meldung bei den Einwohnermeldeämtern in den Gemeinden ist nicht nachzuprüfen. Täter, die ihre Vergangenheit, wie die Hinterlassenschaft eines Schuldenberges, vertuschen wollen, siedeln um. So sind sie für Gläubiger nicht mehr auffindbar.

Rosemarie Held, stellvertretende Leiterin des DRK -Suchdienstes München, sieht „keine gesetzliche Grundlage als Zugriffsmöglichkeit“, wenn sich derart auch ein Unterhaltspflichtiger aus dem Staube gemacht hat. „Diese totale Rechtsunsicherheit hat uns ja alle überrumpelt“, denn es mache laut dem Grundgesetz der Bundesrepublik keinen Unterschied, ob jemand von Erfurt nach Hannover oder von Freiburg nach Hamburg umziehe. Ungeachtet der deutsch -deutschen Brisanz „wechselt er nur seinen Wohnsitz“, meint Frau Held.

Daß das DRK in diesen Aufgabenbereich der Jugendämter humanitäre Hilfe einschaltet, wo es sich doch vorrangig auf die Suche nach in „bewaffneten Konflikten“ Verschollenen konzentrieren sollte, sieht sie als „Kriegsfolgelast“ an. Die Arbeit des DRK, die zumeist bei den Karteien der für alle DDR-Übersiedler obligatorischen Auffanglager einsetzt, beschränkt sich auf die Ermittlung des Aufenthaltsortes der Personen. Sind sie gefunden, geht der Fall an die zuständigen Jugendämter über.