Der vergeßliche Sammler

■ Gespräche mit Jorge Luis Borges

Als „Europäer“, mehr noch als „Grieche im Exil“, so fühlte sich der argentinische Dichter Jorge Luis Borges. Das deutet das Kosmopolitische seines erzählerischen, essayistischen und dichterischen Schaffens an. Geographische und kulturelle Aufgeschlossenheit führen darin zu einer phantastischen Vielfalt. Die Eindrücke der Reisen, die Borges noch in hohem Alter unternahm, wurden umgemünzt in die Bild-Träume und Spiegelungen eines literarischen und damit unbegrenzten Abenteuers. Darin steckt das Bekenntnis einer Kunst um ihrer selbst Willen und die Gewißheit, daß sich so etwas wie Sinn nur in ihr einzustellen vermag. Dem Leben bleibt daher nur der vergitterte Traum, das hinter dem Mannigfachen das Ganze einmal erfahrbar werde. Einstweilen jedoch ist Borges von den Göttern zum Sammler bestimmt, zum Sammler von Einzelheiten: er erinnert sich und vergißt wieder - damit hat er den Modus gefunden der einzig möglichen, leidvollen und zwanghaften Operation, eine zum Unendlichen hin nicht abschließbare Reihe von Variationen der „Wirklichkeit“ zu eröffnen. Das Vergessen ist notwendig, um sich beim Schreiben nicht von der Wiederholung des ewig Wiederkehrenden entmutigen zu lassen, wie Borges sagte.

Etwas Neues von Borges kann mithin so neu nicht sein, dennoch ist es eine anregende Reise durch die unendliche Fülle antiker und abendländischer Geistesgeschichte, an der wir vor allem deshalb so gespannt teilhaben, weil in Borges etwas überdauert hat, das uns angeht. Es ist der Menschheitstraum der Universalbibliothek, den noch jeder träumte, der sich in den Fiktionen von Kunst und Literatur für das Unmögliche entschied, die zeitliche und räumliche Totalität des Lebens erfassen zu wollen. Nicht zuletzt deswegen machte Borges nie viel Aufhebens um die Daten seines „wirklichen“ Lebens. Etwas Fades sei daran, bekannte er schüchtern. Warum auch das Abenteuer fordern vom Leben? Am besten nichts fordern, nicht handeln.

Borges war kein Mensch der Tat. Das Schrille, auch des Literaturbetriebs, verachtete er. Literatur werde nicht zum Zwecke eitler Selbstvergewisserung gefertigt. Sein Name sei nicht kostbar. Borges liebte das Inkognito. In seinen Texten spaltete sich sein Ich auf in verschiedene Rollen und Personen, spiegelt sich in dem anderen bis es sich verliert. Er geht auf in diesem anderen, lebt in realem und übertragenem Sinne in Büchern und Bibliotheken. Die Bibliothek und das Buch, letztlich das eine und einzige (heilige) Buch, die Monade, die alles zu enthalten scheint, wurden ihm zur existentiellen Metapher. Sie hilft ihm denn auch mehr als manch anderem über die tiefe metaphysische Traurigkeit hinweg, die jene befällt, die sich erinnernd und denkend der Leere ausgesetzt sehen, statt im bewußtlosen Handeln sich ihrer zu entziehen.

Das Zitat stammt von Schopenhauer: „Lesen ist denken mit fremdem Gehirn“. Es betitelt den vorliegenden Auswahlband von „dreißig letzten Gesprächen“, in denen Borges sein „persönliches Universum“ ausbreitete: über die Ästhetik der Metapher, über Themen und Motive, von denen er ganz uncartesianisch behauptet, sie nicht gesucht zu haben, vielmehr hätten diese ihn ausgesucht. Sie sind ihm zugestoßen: Tiger, Labyrinthe und Spiegel. Literarische Referenzen gibt es en gros: wir hören von den Lieblingsbüchern 1001 Nacht und der Encyclopaedia Britannica, von Cervantes und dem Kriminalroman, Vergil, Dante, Shakespeare, Kipling, Henry James, Flaubert und Poe, von der Mystik Swedenborgs. Erinnerungen an Bücher und Bibliotheken, Zitat reiht sich an Zitat, ein sprudelndes literarisches Gedächtnis, dessen Kreativität eine indirekte Autobiographie entwirft. Dem im Alter von 59 Jahren erblindeten Borges, der dieses Schicksal mit epikureischer Gelassenheit hinnahm, gönnte sein Gedächtnis die Lektüre einer immer erneuer- und variierbaren Anthologie. Die 30 vom Arche-Verlag für die deutsche Ausgabe ausgewählten Dialoge, die Borges zwischen 1984 und dem Frühjahr 1986, wenige Monate vor seinem Tode, als viertelstündige Rundfunkgespräche mit dem argentinischen Lyriker, Journalisten und Diplomaten Oswaldo Ferrari führte, sind ein heiteres Spiel. Borges ist darin Leser und Autor in einem, „Chronist und Schreiber vieler Meister“, wie es bei ihm heißt. Das Buch nimmt eine Idee auf: die der undogmatischen griechischen Tugend des platonischen und sokratischen Dialogs, wo die „Gastlichkeit gegenüber fremden Meinungen“, die Duldsamkeit, kultiviert ist. Da wirkt nichts apodiktisch. Der Zweifel gilt als „Errungenschaft“. Da es keine Gewißheiten gibt, bleibt einem nur die „Mutmaßung“ in einem beständigen Spiel um Nuancen.

„Ich sage ihnen, daß ich keinerlei Botschaft habe“, sagte Borges, dessen Poesie niemandem etwas schuldet, und die ihr Geheimnis nur in dem magischen Verhältnis preisgibt, das der eine Leser mit dem Buche eingeht. Die Literatur, der Traum und das Phantastische waren es allein, dem Borges vertraute. In den Dialogen ist auf eine unpathetische Weise vom Tode die Rede, dem er sich bereits sehr nahe wähnte. Er empfand ihn als einen Übergang: von der Wachheit in den Schlaf, als letzte Konsequenz des Inkognitos, wo alle Anstrengung der Deutung der Zwiespälte von Fiktion und Realität von ihm weicht. Ein Übergang, der keine Angst macht, eine vollständige Durchdringung und ein Aufgehen in die Bestandteile des Universums, in denen man zu überdauern glaubt. Daraus spricht die versöhnliche Heiterkeit einer ästhetischen Daseinsweise, der im Wortsinne alles „gleich -gültig“ ist.

Florian Bungart

Jorge Luis Borges/Osvaldo Ferrari: Lesen ist denken mit fremdem Gehirn. Gespräche über Bücher & Borges. Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs, Arche-Verlag (Zürich), 320 S., 39,-DM