Das Erhabene: eine Pfütze

■ Eine Performance-Bearbeitung von Lautreamonts „Die Gesänge des Maldoror“ in der Galerie Cardoso-Ribeiro

Am 19.08.'90 - so hieß es in Stadtmagazinen - würde in der Galerie Cardoso-Ribeiro der Ozean inszeniert. Angekündigt war eine Umsetzung des zentralen Themas der „Chants de Maldoror“ des Comte de Lautreamont. Dies ist ein Text, der zu der Art Literatur gehört, deren Verleger weniger auf eine Entdeckung durch das Publikum hoffen als die des Staatsanwaltes befürchten. Das Buch blieb unbekannt, bis es die Surrealisten ins Licht der Öffentlichkeit rückten.

Was aber anfangen mit einer deklamatorischen Rede, die beginnt: „Ich nehme mir vor, ohne Rührung mit lauter Stimme die ernste und kalte Strophe vorzutragen, die ihr hören werdet. Ihr aber, gebt acht auf das, was sie enthält, und hütet euch vor dem schmerzlichen Eindruck, den sie unfehlbar in eurer aufgewühlten Phantasie hinterlassen wird gleich einem Stigma.“

Das Unternehmen ist unzeitgemäß. Der Anspruch des Regisseurs Jean-Marie Boivin, es in die Gegenwart zu übersetzen, entsprechend schwer. Dem heutigen Publikum fehlt die „aufgewühlte Phantasie“, es geht auch nicht mehr ums Provozieren der Zuschauer. Boivin versucht der Aufgabe gerecht zu werden, indem er sein in einjähriger Arbeit entworfenes Theaterstück in acht voneinander unabhängige Sequenzen gliedert, die an den Mittwoch- und Sonntagsabenden des Augustes in der Riemannstraße vorgetragen werden.

Die bitteren Wahrheiten der Gesänge sind umgesetzt in Aktionen, die sich zwischen Hinterhof, erster Etage, Tiefparterre und Straße vollziehen. Am gelungensten war vielleicht die IV. Sequenz: „Theorema“, in der Schauspieler und Zuschauer zusammen an einem Tisch sitzen, auf dem schließlich Vater und Sohn miteinander kämpfen.

Erst im V. Teil, „Der Ozean“, werden die Deklamationen des Textes direkt vorgetragen. Frederike Luers hat die schwierige Aufgabe, auf einer Vogelstange hockend, über die Köpfe der vor ihr auf dem Boden sitzenden Zuschauer die Wahrheiten eines Dichtervogels zu verkünden. Das bei Lautreamont imaginierte pathetische Szenario der einsamen Zwiesprache mit dem Meer ist gebrochen, der freie Blick auf den Ozean zurückgenommen in die trostlose Atmosphäre einer Vogelvoliere. Die Gestalt der Schauspielerin, deren Körper wie der eines Federtieres den Blicken von Zoobesuchern ausgesetzt ist, wird sich in diesem Gefängnis niemals zur vollen Größe aufrichten können. Ihre Sehnsucht nach Inspiration durch den unendlichen Horizont der See ist verwiesen auf die nicht einmal knöcheltiefe Pfütze eines schäbigen Bassins. Ihre Botschaft krächzt nur in der Dunkelheit des Tiefparterres der Galerie.

Die einfache identifikatorische Vereinnahmung von surrealistischen Themen, wie sie heute allzuleicht vollzogen wird, ist damit vermieden. Luers agiert aus einer Position, die künstlerischer Darbietung im 20. Jahrhundert tatsächlich zukommt: der bewußten Gefangenschaft. Fragwürdig ist diese Situation, wo die Assoziationenen der Zuschauer durch die Haltung des angepflockten Tieres voyeuristisch auf den Gestus der sexuellen Devotion gelenkt werden. Die Schauspielerin selbst kann dies als bewußt eingegangene Herausforderung verstehen. Die totale Plattheit dieser Sichtweise, die die schlechte Comic-Zeichnung des Programmzettels dokumentiert, kann sich aber im Gegenzug nicht auf Unbewußtes berufen. Es ist nicht Begehren, wenn eine Frau in einer dem Vogeltier ähnlichen Haltung mit einem Schwein kopuliert. Die Armseligkeit der Bebilderung verdrängter Wünsche wird im inszenierten Monolog zum Glück selbst widerlegt.

Gerade diese schauspielerische Leistung wird, leider zu schnell und zu oft, durch einen Film Christine Schlegels unterbrochen, in den Fotocollagen hineingeschnitten sind. Der Text über den Ozean wird in diesen Bildern nicht einsinnig illustriert. Den Fotografien gelingt wieder jene Brechung der pathetischen Botschaft des Monologs, der in trotziger Sehnsucht das Wechselspiel zwischen Mensch und Ozean bespricht: Von dem scheinbar so großen Thema bleiben nur Urlaubsfotos zurück. Die Dramatik der Meereswelt, die Lautreamont inszeniert, wird in ein harmloses Schattenspiel hinter der Leinwand zurückgenommen.

Wenig originell ist der Film allerdings, wo er den Formen von Kleintieren des Ozeans folgend, in übermalten Figuren die Bewegung des Meeres symbolisch überhöhen will. Da löst er die Rhythmik der Bilder in Kreisen auf, die schließlich im Oval des menschlichen Auges enden.

Was aber hat man gesehen? Selbstkritisch hält ein von Boivin am Schluß der Performance verlesenes Zitat Lautreamonts fest: „Würdet ihr also versichern, meine Mission wäre erschöpft, weil ich, gleichsam spielend, den Menschen, den Schöpfer und mich selbst in meinen erklärlichen Übertragungen beschimpft habe? Nein: Der wichtigste Teil meiner Arbeit besteht dennoch nicht weniger in einer Aufgabe, die noch zu tun bleibt.“

Thomas Schröder

Teil VII (Der Galgen) und VIII (Die Päderastie) der Performance sind am 26. und 29.8., 21.30 Uhr in der Galerie Cardoso-Ribeiro, Riemannstraße 10 zu sehen.