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Vom Ballast der Sehnsucht

■ „Wenn Vögel Flügel hätten“ im Theater Zerbrochene Fenster

Der Mensch ist ein Mängelwesen. Wo die Vögel Flügel haben, sind ihm zwei lächerliche Stummel, man nannt sie Arme, gewachsen. Das macht, daß ihm gewisse Sphären verschlossen bleiben, die der Lüfte beispielsweise. Und, über die Begrenztheit seines Erdendaseins stets hinauswollend, geht dahin seine Sehnsucht, sagt man. Seinen Möglichkeiten gemäß bedient er sich dessen, was die Evolution ihm als Werkzeug mit auf den Weg gegeben hat, um den naturbedingten Mangel auszugleichen: der Feinmotorik. Der Mensch als homo technicus, oder: der Heimwerker als Drachenbauer. Doch wachsen die Flügel immer den anderen, den Flugzeugen nämlich, und Symbioseversuche zwischen Mensch und Maschine enden in puncto Fliegen meist mit einer Bruchlandung.

Trotzdem wird es immer wieder versucht. So auch im „Theater Zerbrochene Fenster“. Die Inszenierung von Sabrina Hamilton, die den Titel trägt Wenn die Vögel Flügel hätten. Der Fall Ikarus, beginnt damit, daß ein Mensch versucht, einen mit Pergament beklebten Holzrahmen in spitz zulaufender Dreiecksform durch eine Tür zu zerren. Das noch nicht näher bestimmte Objekt ruft vielfältige Assoziationen hervor. So denkt man z.B. durch die Geometrie der Leisten an Leonardo als technischen Zeichner oder auch an den Schneider von Ulm. Man sieht diesen seinem traurigen Ende entgegenstürzen, doch gleichzeitig wird die Hoffnung geschürt, die Geschichte vom Laster des Fliegenwollens und dessen Strafen einmal ganz neu erzählt zu bekommen. Denn der selbstgebastelte Flügel will nicht durch die Tür passen, der Schneider müßte also in der Stube bleiben, das Unglück würde gar nicht erst passieren, was also statt dessen?

Doch da bricht das Flugobjekt schon entzwei, und heraus kriecht Ikarus. In weißer Strandkleidung und gewickelten Bastschuhen scheint er sich auf seiner Heimatinsel Kreta eher touristisch zu bewegen. Wo er herkommt, das weiß man nicht. Die Inszenierung legt nahe: aus dem Hühnerstall, denn über Klangmontage hören wir bei seinem Auftritt das Abschlachten eines Huhns. Vereinzelt fliegen Federn aus dem Off in einen Lichtstrahl. Damit ist das Prinzip der vom Ensemble gemeinsam erarbeiteten, übrigens fast wortlosen Inszenierung klar: es handelt sich um eine Ton-Spiel-Bild -Montage, d.h. um den Einsatz aller Medien auf kleinstem Raum zur größtmöglichen Illusionserzeugung. Die Regisseurin aus New York kommt vom Light-Design, und was sie dort gelernt hat, zeigt sie meisterhaft.

Die Inszenierung ist in der Ausschöpfung der bühnentechnischen Möglichkeiten „perfect“, bis auf einen Punkt, den des „Dahinter“. Hinter einer perforierten Wand, die je nach Lichteinfall transparent werden kann, vollzieht Lilith, hier als Verkörperung der Sehnsucht des Ikarus - das „ewig Weibliche“ (Goethe-Zitat im Programmheft) eben - ihre Exerzitien: vom Blocksbergtanz mit Feuerschalen bis zum Fruchtwasserbeschwörungs-„Uhuhu„-Singen werden alle Register des sogenannten Geheimnisvollen gezogen. Doch durch platte Anhäufung von Rätselhaftem hebt sich bekanntlich jedes Rätsel auf, in diesem Fall aber nicht in Luft. Noch dazu ist die Darstellerin dem technischen Standard der Illusionsmaschine im „Dahinter“ nicht gewachsen. Der Traum des Ikarus, den sie verkörpern soll, verliert seine Scheinbarkeit durch bloße körperliche Präsenz in Form von Pannen. Menschen haben eben keine Flügel, und ebensowenig sind sie körperlos.

Auch inhaltlich scheitert das „Dahinter“ an dieser Diskrepanz zwischen Theater-Wirklichkeit und -Anspruch. Man hebt sich doch etwas zu sehr in die Lüfte, in jene Höhen nämlich, aus denen man die ganze Welt im Planquadrat sieht. Kreta und Berlin, zusammengeschrumpft auf Minimaldistanz; was dazwischen liegt, wird nicht mehr wahrgenommen. So muß Ikarus an diesem Abend auch alles „anspielen“, was zu seinem „Fall“ jemals bekannt wurde. Er ist der „Sohn des Daedalus“ ebenso wie „Der Schneider von Ulm„; er ist zugleich „Papageno“ oder, in neuzeitlicher Abwandlung des Motivkomplexes, ein „Fall“ für die Psychiatrie: „Birdy„; und zuletzt wird er zum Astronauten.

In Überschallgeschwindigkeit rast Ikarus durch die Kulturgeschichte, selektiert nach dem Thema: Der Mensch und das Fliegen. Die Vorgehensweise ist touristisch, frei nach der Methode: Europe in three days. Kein Wunder also, daß er seiner eigenen Geschichte immer hinterherhechelt, bis zu dem Punkt, wo der „Fall Ikarus“ mit dem „Fall des Ikarus“ zusammentrifft: der Flug in die Sonne ist hier einer in die Sterne, und dort ist alles schwerelos. Verblüffenderweise schwebt der Darsteller tatsächlich im Raum! Absicht und Ausführung fallen in dem Moment zusammen, wo er den Boden unter den Füßen ganz real verliert. Wenn der Ballast der mühsam konstruierten Spielhandlung abgeworfen ist und die Erdenschwere der Materie, d.h. sein Körper, in einem illusionstechnischen Effekt aufgelöst werden kann (wohlgemerkt: keiner komplizierten Maschinerie), hebt der Abend wirklich ab. Die Symbiose zwischen Mensch und Technik scheint für einen Moment gelungen.

-sim

„Wenn Vögel Flügel hätten. Der Fall Ikarus“ jeweils Freitag bis Montag um 21 Uhr im Theater Zerbrochene Fenster, Schwiebusser Straße 16, Berlin 61, Tel. 6942400.

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