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Nötigung zur Wahl des größeren Übels

■ Das Kartell der staatstragenden Parteien hat erwartungsgemäß den Anfang August ausgehandelten Wahlmodus parlamentarisch beurkundet / Sperrklauseln sind nicht nur hochproblematische Durchbrechungen der Wahlgleichheit, sie sind auch politisch schädlich / Die deutsche Angst vorm Chaos

Von Horst Meier

Parlamentarismus in Deutschland - das ist nicht der Stoff für große politische Emotionen, für hitzige Dispute in Cafes oder auf öffentlichen Plätzen. Das macht nichts. Das ist gut so. Spricht es doch eher für den Realitätssinn als für die Trägheit des Publikums. Beim abendlichen Tagesschau -Verschnitt beschleicht schwerlich jemanden das Gefühl, etwas verpaßt zu haben. Wer sich je eines verregneten Nachmittags auf den hohl tönenden Mittelwellensender irgendeiner Landesrundfunkanstalt verirrt hat, ahnt, warum die Mehrheit der Redner im hohen Haus sich so unbekümmert am Wort vergreift. Sie können sich in der Gewißheit wiegen, daß „draußen im Lande“ ohnehin niemand zuhört.

So ist denn auch von den Wahlrechtsdebatten der vergangenen Woche aus Volkskammer und Bundestag, soweit sie überhaupt stattfanden, nichts Nennenswertes zu berichten. Erwartungsgemäß ist die vom Kartell der staatstragenden Parteien ausgehandelte Variante parlamentarisch beurkundet worden. Nun also Fünfprozent plus Listenverbindungen. Damit geht es nicht einmal mehr gegen „Splitterparteien“ schlechthin. Im Gegenteil, per „Huckepack„-Verfahren läßt es sich gezielter manipulieren. Immerhin ist kaum mehr etwas bemäntelt worden: Während die meistbegünstigte DSU im nächsten Bundestag vertreten sein wird, soll die PDS möglichst außen vor bleiben.

Wenn eine Partei allseits verdächtig ist, dann die sogenannte Splitterpartei. Die Fünfprozentklausel gehörte von Anbeginn zur politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik und verfestigte sich im Laufe der Zeit zum unhinterfragten Bestandteil des politischen Bewußtseins. Dem wahlstrategischen Kalkül der etablierten Bonner Parteien haben wir es zu verdanken, daß die Klausel endlich ins Gerede gekommen ist.

Der Untergang

der Weimarer Republik

ist kein Einwand

Ist es wirklich ein für alle Mal ausgemacht, daß bis zu zweieinhalb Millionen Stimmen bei einer gesamtdeutschen Wahl unter den Tisch fallen müssen? Gut 51 Millionen Wahlberechtigte bei 656 Abgeordneten: Das ergibt annähernd 33 Volksvertreter, die (pro „falsch“ gewählter Partei) aus dem Parlament ausgesperrt werden können - eine stattliche Zahl. Dabei ist die Sache recht einfach zu lösen. Liegt die Wahlbeteiligung bei ungefähr 90 Prozent, sind rund 7.000 Wählerstimmen zwischen Greifswald und München nötig, aber auch ausreichend, um eine Abgeordnete in den gesamtdeutschen Bundestag zu entsenden. Das garantiert nicht nur ein parteipolitisch neutrales, weil formal-rechnerisches Verfahren, sondern fördert auch auf authentische Weise radikale demokratische Gleichheit. Warum sollte ein Wahlgesetzgeber dieses klare Votum von 70.000 Teilhabern der Volkssouveränität einfach annullieren dürfen?

Der Untergang der ersten demokratischen Republik ist ein denkbar schlechter Einwand gegen eine radikale Wahlrechtsreform. Wenn in „Weimar“ eine Tendenz verheerend geschichtsmächtig wurde, so am allerwenigsten die Unübersichtlichkeit parlamentarischer Parteisplitter, sondern das Vabanquespiel einer antirepublikanischen „Mehrheit als Sekte“ (Peter Brückner, Kursbuch 55). Es wird höchste Zeit, eine „Hürde“ abzubauen, die sich längst zu einer solchen gegen „mehr Demokratie“ verfestigt hat.

Mit der Beschwörung des verblichenen Weimar-Arguments, das heute in erster Linie von der deutschen Angst vorm Chaos lebt, wird jedenfalls im neuen Deutschland kein Staat mehr zu machen sein. Die Gründungslegenden der Bundesrepublik, zu Lebenslügen geronnen, sind irreversibel verbraucht.

Gewiß, das Verfassungsgericht hat seit 1952 die Wahlgesetzgebung gegen kleine Parteien für verfassungskonform erklärt. Doch erlaubt deshalb „das Grundgesetz“ irgendwelche Sperrklauseln? Die Analyse der Argumente in Sachen Fünfprozent zeigt, daß kleinere Parteien aus Gründen benachteiligt werden, für die im Grundgesetz keine Rechtfertigung zu finden ist.

In den Anfängen seiner Wahlrechtssprechung hat das Gericht wenigstens noch eine Ahnung davon gehabt, daß jeder Eingriff in die formale Wahlgleichheit im Grunde verfassungswidrig ist. So hat es festgestellt, daß, sofern sich der Gesetzgeber erst einmal für die Verhältniswahl entschieden hat, die Sitzverteilung nach einem streng formalen Proporz erfolgen muß. Denn Sinn der minderheitenfreundlichen Verhältniswahl ist es gerade, das gesellschaftliche Kräfteverhältnis der Parteien im Parlament authentisch abzubilden.

Bereits in seiner ersten einschlägigen Entscheidung von 1952 glaubte das Gericht, diese Gleichheit ohne Strapazierung des Grundgesetzes aushebeln zu können. Das entscheidende Stichwort heißt bis heute „besondere, zwingende Gründe“. In diesem Sinne „zwingend“ soll es sein, „Störungen der Funktionsfähigkeit“ des Parlaments zu verhindern. Wann aber funktioniert ein Parlament? Ganz einfach: Wenn es ohne größere Reibungsverluste prozediert, will sagen: weniger ausschweifend diskutiert als vielmehr ordentlich seine Hausaufgaben macht. Höherer Zweck von Wahlen ist es nämlich, ein arbeits- und mehrheitsfähiges Parlament zu kreieren. Weshalb auch schon einmal auf die eine oder andere Außenseitermeinung verzichtet werden kann.

Mit einer „übermäßigen Parteienzersplitterung“ sah das Gericht von Anbeginn eine „staatspolitische Gefahr für die Demokratie“ heraufdämmern. Eine Gefahr, für die es in der parlamentarischen Realität der Bundesrepublik bislang zwar keinerlei Anhaltspunkte gab, die dafür aber um so hypothetischer im Konjunktiv beschworen werden mußte: So könnte ja nicht nur die Mehrheitsbildung erschwert oder gar verhindert werden; es könnten auch kleine Gruppen in die Volksvertretung gelangen, die „nur einseitige Interessen vertreten“.

Gesamtwohl und Integration, klare und verantwortungsvolle Mehrheiten, Handlungs- und Funktionsfähigkeit: Aus diesem staatspolitischen Gemisch lassen sich vielleicht mit einigen Verrenkungen Gründe entwickeln, die die eklatante Diskriminierung kleiner Parteien durch den Wahlrechtsgesetzgeber „zwingend“ erscheinen lassen schwerlich dagegen die parlamentarische Streitkultur einer sozial hochdifferenzierten, modernen Gesellschaft. Die bis zu einer Höhe von fünf Prozent „in aller Regel“ als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuften Sperrklauseln finden mithin nicht im Grundgesetz, sondern allein in der abstrakten Ordnungsrhetorik des Verfassungsgerichts ihren Grund. So erweist sich die Sperrklausel als diskriminierender, das heißt verfassungswidriger Wahlmodus.

Doch wie auch immer man die Rechtslage einschätzen mag: Sperrklauseln sind nicht nur hochproblematische Durchbrechungen der Wahlgleichheit, sie sind auch politisch schädlich. Die Tristesse des Bonner Parteienkartells, die jetzt offensichtlich auf Ostdeutschland übertragen werden soll, hat einiges mit dem zu tun, was seit geraumer Zeit sorgengegrämt Parteien- und Staatsverdrossenheit genannt wird. Man kann indes nicht den Legitimationsverlust der Altparteien beklagen und zugleich den Untergang der Demokratie an die Wand malen, sobald sich lechts und rinks oder sonstwo neue Kräfte konstellieren.

Wenn ein besonnener Mann wie Kurt Biedenkopf in seinen Zeitsignalen (1989) schon die Rede von der „pluralistischen Fassung des Einparteienstaates“ aufgreift, um das nivellierte westdeutsche Parteiengefüge zu beklagen, ist es wirklich schlecht um dessen Zukunft bestellt. „Catch -all-Parties“, „Allerweltsparteien“ - dieser politikwissenschaftliche Begriff Otto Kirchheimers charakterisiert treffend die Tendenz der großen bürokratischen Apparate, im Kampf um Wählerstimmen ihre programmatischen Differenzen immer mehr einzuebnen.

Die Folge ist ein mäßig entfalteter Parlamentarismus ohne hinreichend konturierte Alternativen.Nichts aber belebt das politische Geschäft mehr als Konkurrenz. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß neugegründete Parteien und Bürgerbewegungen in die Parlamente gelangen, um dort aktuelle gesellschaftliche Strömungen und Tendenzen im politischen Kräftespiel zur Geltung zu bringen.

Gegen diese Durchlässigkeit ist indes der vielgepriesene Abschreckungseffekt der Sperrklauseln ausdrücklich gerichtet. Sie erweisen sich damit als Schutzklauseln für die etablierten Parteien, auf daß diese sich möglichst lange ungestört im Reservat ihrer konsensualistischen Phantasielosigkeit einrichten können. Ist schon jede Sperrklausel als solche fragwürdig, so wird sie vollends zum Skandal, wenn so hoch gegriffen wird wie in der Bundesrepublik. Ganze fünf Prozent, das ist eine Spitzenleistung im Vergleich der europäischen Demokratien und sinnfälliger Ausdruck deutschen Ordnungssinns.

Man mag das hierzulande alles nicht: „Parteiengewimmel“, „Splittergruppen“, wechselnde Mehrheiten, den kontradiktorischen parlamentarischen Diskurs, den kompliziert auszuhandelnden Kompromiß - der hin und wieder für eine Überraschung taugt und eben nicht eingesargt ist in die starre Fraktionsdisziplin der Parteiapparate. Hinter dieser Abwehr verbirgt sich nichts weniger als das tiefsitzende Ressentiment gegen Parteiungen überhaupt, die stets in Verdacht standen, den „Volkskörper“, die Einheit der Nation, die „Volksgemeinschaft“ zu spalten und handlungsunfähig zu machen. Der antiparlamentarische und vordemokratische Affekt gegen pluralistische „Zerrissenheit“ und „zersetzenden“ Parteienstreit: auch dies ein unpolitischer - Traum von deutscher Einheit...

Als sei nicht gerade die Stabilität von Regierungen in Deutschland das politische Problem, sorgt man sich unentwegt und fernab jeglicher realer Gefahr um die Kontinuität von Herrschaft. Je zeitgleicher aber eine Gesellschaft ihre sozialen und politischen Widersprüche ungefiltert in ihren Willensbildungsprozeß einfließen läßt, um so größere Chancen hat sie, so etwas wie institutionelle Lernfähigkeit und damit Konfliktbearbeitungskapazitäten auszubilden. Von daher ist die Verhältniswahl, die ein Höchstmaß an Differenzierung garantiert, der Mehrheitswahl klar überlegen.

Wer dagegen glaubt, das Verhältniswahlrecht nur mit einer mehr oder weniger hohen Sperrklausel oder anderen Manipulationstechniken ertragen zu können, sollte redlicherweise gleich für Mehrheitswahl und Zweiparteiensystem optieren. Sperrklauseln vertragen sich nicht mit der Verhältniswahl, weil sie deren konfliktorientierte, im günstigen Falle innovative Dynamik weitgehend stillegen. Das farblose (west-)deutsche Parteienspektrum ist mit interessanten Neugründungen wahrlich nicht gesegnet. Um so abwegiger ist das gedankenlose Gerede gegen „Splitterparteien“. Das hiesige politische Bewußtsein hat noch keine Ahnung davon, daß gerade solche Splitter zum Kostbarsten gehören, was das deutsche Parteiengefüge heute zu bieten hat.

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