piwik no script img

In Halle ist Kohl noch immer die Zugnummer

■ Erster öffentlicher DDR-Auftritt des Bundeskanzlers nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion / Gegendemonstranten auf verlorenem Posten / Nach vereinzelten Eierwürfen Faustschläge gegen Kohl-Kritiker

Aus Halle Axel Kintzinger

Der Anlaß dieser Kundgebung war schnell vergessen. Rund 30.000 Frauen und Männer ließen die Reden zur Ausbildungspolitik in der DDR in gleißender Sonne geduldig über sich ergehen. Höflichen Applaus für die Sprechern von Arbeitgeberverbänden, Industrie- und Handels- sowie Handwerkskammern brandete nur auf, wenn die Redner die desolate Wirtschaftssituation auf die „40 Jahre Kommandowirtschaft des SED-Regimes“ zurückführten. Aber auf den Halleschen Marktplatz geströmt waren sie am späten Dienstag nachmittag nur wegen Helmut Kohl. Das gilt auch für die wenigen Hundert, die wegen ihrer Transparente zur aktuellen Politik - „Deutsche Waffen, deutsches Geld...“ -, wegen mitgebrachter PDS-Fähnchen oder bunter Haartracht als Kritiker des Kanzlers und seiner Politik auszumachen waren.

Heimspiel für Kohl. Vieltausendfache „Helmut, Helmut„-Rufe bei seinem Eintreffen, tiefkehlige Schreie immer dann, wenn einer auf „den besonderen persönlichen Einsatz“ des „lieben Herrn Bundeskanzlers“ für die deutsche Einheit hinweist. Auch wenn sich die Kameras auf die kleine Schar von Gegendemonstranten konzentrierten: Deren Pfiffe und Sprechchöre gingen im Schatten der spätgotischen Marktkirche mit ihren vier Türmen unter. Auch in Halle und im Land Sachsen-Anhalt, um dessen Hauptstadtsitz sich die örtliche Polit-Prominenz bewirbt, grassiert Arbeitslosigkeit, verfallen Häuser. In den Einkaufsstraßen gähnen ausgeräumte Schaufenster, von wirtschaftlichem Aufschwung ist weit und breit nichts zu sehen. Die Schuldfrage ist schnell geklärt auf dem Podium wie in der Menge. SED und Planwirtschaft gibt es nicht mehr, das Häuflein der Anhänger der Nachfolgepartei PDS ist zu klein, zu brav, zu harmlos, um als Schreckgespenst herhalten zu können.

Auf der Suche nach neuen Feindbildern gibt Kohl den Takt vor. „Wer sagt, die Einheit wird zu teuer“, spielt er auf seinen Kontrahenten Lafontaine an, ohne ihn oder die SPD beim Namen zu nennen, „verrät die Zukunft Deutschlands.“ Aber die Menschen, die jetzt so stolz sind auf ihre deutsche Zukunft, sehen auf dem Marktplatz keinen Sozialdemokraten. Und so halten sie sich an jene, die im Zusammenhang mit der deutschen Einheit auch immaterielle Kosten berechnen - indem sie etwa mit handgemalten Schildern auf die Diskussion um den Abtreibungsparagraphen 218 hinweisen. Als „rotes Gesocks“ beschimpft man sie; verhaßt ist alles, was nicht mitjubelt in der Menge, ist jeder, der nicht ebenfalls in frenetischen Beifall ausbricht, wenn Kohl von „haßerfüllten Gesichtern“ spricht und dabei die jungen und im Ost-West -Vergleich sehr unverbrauchten, noch nicht von Frust und Drogen ausgelaugten Punks meint. Und dem „roten Gesocks“ wünschen einige lautstark nur: „Aufhängen, aufhängen!“ Niemand widerspricht. Und keiner versucht mäßigend auf den Rentner einzuwirken, der dem einzig anwesendem Schwarzen, einem unbeteiligt dastehenden Mulatten mit fröhlichem Gesicht, mehrmals entgegenbrüllt: „Man müßte euch hinausdreschen aus unserem Deutschland, ihr schwarzen Hunde!“

Kohl hatte sich zuvor über Eier und Tomaten geärgert, die in Richtung Rednertribüne geflogen waren, aber niemanden trafen. DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere nahm die Natur-Wurfgeschosse gelassen hin, entspannte die Situation mit einem Witzchen: „Was die Preise bei Eiern und Tomaten betrifft, haben wir die Probleme ja offensichtlich gelöst.“ So gelassen mochte Kohl nicht auf diesen „Druck der Straße“ reagieren. Er sprach von „blanker Gewalt“.

Hat Kohl das Gefühl für die Wirkung seiner Worte verloren? Hat ihm kein Berater geflüstert, daß er heute eine Rede in Halle anders halten muß als in Hannover? Daß politisches Bewußtsein und das Abstraktionsvermögen des Normalbürgers West bei Wahlkampfreden sehr viel höher entwickelt ist als bei Otto Normalverbraucher Ost? Kohl polarisiert und ahnt dabei nicht, gegen wen sich die Aggressionen seiner Anhänger richten. Gegen eine junge Frau etwa, die sich per Button als Mitglied des Neuen Forums ausweist. Als „rote Sau“ gebrandmarkt, hilft auch ihre Entgegnung nicht, schon seit Jahren in der örtlichen Gruppe „Frauen für den Frieden“ und in kirchlichen Oppositionskreisen gearbeitet zu haben. Einer („Ich habe Jahrzehnte dem Staat gedient und bin betrogen worden“) schleudert ihr entgegen: „Geh‘ doch arbeiten!“ Mit Tränen in den Augen erzählt sie von ihrer Arbeit als Radiologin, daß sie „von morgens bis abends in der Klinik stehe und so manche Dosis abkriege“. Einem jungen Mann aus ihrem Umfeld, Typ Theologiestudent und ebenfalls umringt und bedrängt von dickleibigen, verschwitzten Kohl-Fans, kracht eine Faust ins Gesicht. Was wirft der geifernde Mob, nach zahllosen Jubelschreien für Kohl heiser geworden, diesen Leuten vor? Ihre Jugend, daß sie mit ihrem Leben noch etwas anfangen kann? Oder ihre politisch saubere Weste unter lauter Menschen, die allesamt mitgespielt haben, mitgelaufen sind und nun als „schwer vermittelbar“ den Sockel der DDR -Arbeitslosigkeit bilden?

Helmut Kohl ist - und nicht nur in Halle - nach wie vor eine politische Zugnummer. Mit Rhetorik und geschicktem Verteilen deutschnationalen Balsams ließ er die Menge für eine halbe Stunde ihre Sorgen vergessen. Nach dem Ende der Kundgebung sucht die aufgewühlte Atmosphäre nach Entladung und findet sie bei denen, die Zweifel äußern ob des von Kohl versprühten Optimismus‘. Volkspolizisten stehen untätig herum, bewachen die noch verbliebenen, dunklen Karossen aus Kohls Gefolgschaft. Die Folgen seiner Rede bekommt der Kanzler nicht mehr mit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen