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Geschichte ohne Happy-End

■ Vor zehn Jahren wurde in Polen Solidarnosc gegründet

KURZESSAY

Schon die Bibel belehrt uns, daß nicht alle, die säten, ernten werden. Der 10. Jahrestag des Gdansker Abkommens, mit dem die polnischen Arbeiter das Ende des Parteistaats und seiner monopolistischen Ansprüche einläuteten, liefert weiteres Material für diese melancholische Einsicht. Als 1980 an der Küste und in den Bergwerken Polens gestreikt wurde, herrschte in der Sowjetunion die Breschnewsche Starre und in den Ost-West-Beziehungen drohte eine neue Phase der Konfrontation. Die Streikenden konnten auf keinerlei Unterstützung aus den „Bruderländern“ zählen.

Für die westlichen Staatsleute taugten sie nur als Material für die Systemauseinandersetzung, wenn sie nicht sogar als Abenteurer denunziert wurden, die die Stabilität im geteilten Europa leichtfertig aufs Spiel setzten. Von August '80 bis Dezember '81 war in den westlichen Kanzleien keinerlei Rede von einem Marshallplan für ein pluralistisches Polen, nicht einmal von Schuldenerlaß oder wenigsten Zinsreduktionen. Was die Sowjetunion anlangt, gilt es heute als gesichert, daß sie seit Anfang 1981 die Zerschlagung der Solidarnosc betrieb und den polnischen Realsozialisten nur ein marginaler Einfluß auf die Operation zugestanden wurde. Das Ende der freien Gewerkschaft war also unausweichlich.

In der westlichen Presse der 80er Jahre wurde es zum Gemeinplatz, nur noch vom „Mythos Solidarnosc“ zu sprechen. Aber Kerne der totgesagten Gewerkschaft überlebten im Untergrund, geschwächt zwar durch Entlassungen und erzwungene Emigration, aber nie ohne Verbindung zu ihrer „Basis“ in den Großbetrieben. In den großen Streikbewegungen des Jahres 1988 traten sie wieder hervor und erzwangen mit den Aktivisten einer neuen Generation Verhandlungen, die zum „Runden Tisch“ führten, wo sich die Realsozialisten mit einigem Anstand vom größeren Teil der Staatsmacht verabschiedeten.

Heute, am 10. Gründungstag der Gewerkschaft, stehen die Polen vor einer wahrhaft paradoxen Situation. Sie, die die Möglichkeit des Widerstandes wachgehalten und in die Ära der Perestroika hinübergerettet haben, sehen sich plötzlich am Ende der Warteschlange, die ins Europäische Haus, sprich die EG, Einlaß begehrt. Kein Wort der Anerkennung, geschweige denn der Hilfe von den demokratisch gewählten Regierungen und Gesellschaften Ostmitteleuropas, dafür aber reichlich Diskriminierungen. Nicht nur bei uns, sondern in den Medien der ganzen ostmitteleuropäischen Region wird ein Bild des „polnischen Händlers“ ausgemalt, dem die Herkunft aus dem Arsenal des Antisemitismus auf die Stirn geschrieben steht. Was wir aus Polen erfahren, spiegelt nichts wider von dem unendlich mühevollen Prozeß gesellschaftlicher und ökonomischer Rekonstruktion. Teils amüsieren, teils erschrecken uns die vielen schmutzigen Details, die die „ursprüngliche Akkumulation“ in Polen begleiten. Während in der DDR die Ökonomie wankt, erhält die spießbürgerliche Rede von der „polnischen Wirtschaft“ bei uns neue Nahrung. Wirklich, diese Geschichte hat keinen glücklichen Ausgang. Dabei hat uns doch Ernst Bloch gelehrt, die Idee des Happy -End zwar zu durchschauen aber dennoch zu verteidigen.

Aber vielleicht birgt das Drama der Solidarnosc, dessem letzten Akt wir vieleicht im Augenblick beiwohnen, eine, wenn auch bittere, Notwendigkeit. Von Anfang an war innerhalb wie außerhalb Polens umstritten, welche Bedeutung die Gründung der Gewerkschaft für den Kampf um die Demokratie habe. Die eine Interpretationslinie, die in der Proklamation der selbstverwalteten Republik auf dem ersten Solidarnosc-Kongreß kulminierte, sah die Gewerkschaft als ein Zentrum gesellschaftlicher Selbstorganisation gegen den Staat. Ein Gesellschaftsvertrag sollte den Nomenklaturisten einen engen Bereich der Machtausübung auf Zeit überlassen gleichzeitig aber wurden der Gesellschaft weite Bereiche, die bisher unter Staatskontrolle gestanden hatten, vindiziert. Vor allem betraf dies die Ökonomie, die entmonopolisiert, dezentralisiert und selbstverwaltet organisiert werden sollte. Die andere Interpretationslinie sah im Projekt der gesellschaftlichen Selbstorganisation nichts als eine - noch dazu aus sinistrem, linken Fundus stammende - Kostümierung eines Zustands, in dem die volle Ausbildung der parlamentarischen Demokratie noch nicht möglich war. Wäre der Staat der Nomenklatur erst beseitigt, so würde mit der Privatisierung der Produktionsmittel und dem freien Markt auch die „Normalität“ des politischen Institutionensystems einkehren.

Die Wahlen des Jahres 1989 brachten dort, wo tatsächlich ausgewählt werden konnte, dem Bürgerkomitee, das heißt dem einheitlichen politischen Arm der Solidarnosc, einen überwältigenden Sieg. Es entstand ein politischer Block, dessen Stärke und moralische Autorität hinreichte, in einer beispielslosen Kur die Inflation zu bremsen, die innere Konvertierbarkeit des Zloty zu Wege zu bringen und den Staatshaushalt zu sanieren.

Das Bürgerkomitee war zunächst auch mehr als eine Addition auseinanderstrebender Interessen. Es verstand sich selbst als in erster Linie moralische Instanz, als Träger eines „Ethos“, dessen Ingredienzien der katholischen Soziallehre, einem anarchisch eingefärbten Liberalismus und der nationalen Mythologie entnommen waren. Die Komitees sollten nach dem Willen ihrer Schöpfer, „der Menschen von Solidarnosc“, wie sie in Polen genannt werden, die Sanierungspolitik der Regierung Mazowiecki weiterhin absichern. Sie, die vor allem der Idee sozialer Verantwortung und Würde verpflichtet waren, sollten also Maßnahmen durchziehen helfen, die unweigerlich die Lebensbedingungen der „Massen“ verschlechterten. Denn zum Sparplan des Wirtschsaftsministers Balscerowicz wird nirgendwo eine Alternative angeboten.

Dieses Dilemma hat voll auf die Gewerkschaft Solidarnosc durchgeschlagen. Sie organisiert heute nur noch 2,5 von ursprrünglich 10 Millionern Mitgliedern, der Anteil an qualifizierten ArbeiterInnen und Technikern ist noch höher als 81, die Verteilung der Mitglieder regional und auf die verschiedenen Betriebsgrößen bezogen noch ungleichmäßiger. Die Konkurrenz, die unter dem Kriegsrecht von den Realsozialisten hochgepäppelte OPZZ, ist heute in vielen Betrieben stärker als Solidarnosc. Aber nicht hier liegt das eigentliche Problem. Die Arbeiter (und die Bauern), die ihre Interessen nicht mehr durch Solidarnosc vertreten fühlen, setzen die jetzige Regierung mit der Herrschaft der Realsozialisten gleich und reagieren entsprechend - mit politischer Resignation oder mit perspektivlosen, rasch aufflackernden und wieder zusammenbrechenden Protestaktionen. Nur der noch ungebrochenen Autorität Walesas ist es gelungen, die Arbeiter von Slupsk von den Gleisen und die Bauern von den Überlandstraßen zu bringen. Was kann Solidarnosc anbieten außer Durchhalteparolen und abstrakten Forderungen wie: „Die Betriebsaktien in die Hände der Arbeiter!“?

In dieser Situation eröffnete Lech Walesa seinen „Krieg an der Spitze“ gegen den Ministerpräsidenten Mazowiecki und die Bürgerkomitees als einheitliche „Bewegungspartei“. Er verdächtigte die Komitees, ein politisches Machtmonopol anzustreben, das sich von dem der Realsozialisten nur der Ideologie nach unterscheide. Die Komitees sollten sich in Schulen des Pluralismus verwandeln, die verschiedenen politischen Strömungen in ihrem Schoß sollten sich zu Parteien kristallisieren. Er selbst inspirierte die rechts -nationalistische „Zentrum-Allianz“, die seit Mai seine Kandidatur für das Präsidentenamt betreibt. Ihr stellte sich die links-liberale ROAD entgegen, die die Komitees als Wahlvereine erhalten möchte und die Kandidatur Mazowieckis betreibt. So logisch Walesas Argumentation auch ist: die Liquidierung der Bürgerkomitees und - nach Walesas neuesten Vorstellungen - auch der Gewerkschaft Solidarnosc selbst würde nicht zu einem „normalen“ Parteiensystem führen. Vielmehr würden Sammlungsbewegungen dominieren, deren eine, von Walesa geführte, einen demagogischen Kurs der Abrechnung mit den alten und neuen „Roten“ führen würde - als Ersatz für eine nicht existente alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik. Eine „Normalität“ dieser Art wäre mehr eine Rückkehr zum Polen des Autokraten Pilsudski als die vielbeschworene „Rückkehr nach Europa“.

Christian Semler

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