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Gysi: Grüne links überholen

■ Polit-Star Gregor Gysi als Publikumsmagnet / Mit spitzer Zunge gegen „seinen“ Kanzler beim Wahlkampfauftakt der Linken Liste/PDS

Salzgitter (taz) - Ein Polit-Star besucht Salzgitter, und der große Saal im Hotel Gästehaus kann den Andrang nicht aufnehmen: Menschentrauben an den Türen, Zuhörer jeden Alters auf den 450 Sitzplätzen, vorn im Saal und auf der Bühne sitzt jugendliches Publikum dicht an dicht auf dem Boden. Die Hauptperson, den PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi, können die meisten allenfalls hören. Doch wenn der etwa den „Kanzler aller Deutschen“ aufs Korn nimmt, reichen die Worte allemal für Beifall: „Helmut Kohl will ja jetzt auch mein Kanzler werden. Dafür muß er sich aber noch mächtig ändern“, spottet Gysi, um gleich wieder ernst zu werden: Hatte doch Kohl auf seiner Kundgebung in Halle mit dem Ausspruch „Jede Stimme für die PDS ist eine Stimme für die Fortsetzung von Gewalt und Terror“ eine Schlägerei zwischen jugendlichen Eierwerfern und Kundgebungsteilnehmern ausgelöst.

Als Wahlkampfauftakt der Linken Liste/PDS für Niedersachsen ist die Veranstaltung in Salzgitter angekündigt, und bei allen Gags - „Ich wüßte gar nicht, was die Volkskammer ohne mich anfangen sollte“ - hat Gysi zu erklären, was die PDS im Bundestag will. „Durch die Linke Liste/PDS bleibt ein Stückchen DDR-Identität bestehen“, sie sei die einzige zum Bundestag kandidierende Partei, bei der nicht die Westpartei den kleineren Partner in der DDR geschluckt habe, lautete Gysis Hauptargument. Im neuen gesamtdeutschen Parlament wolle die PDS vor allem gegen die „Gefahr der Entsolidarisierung“ zwischen Ost und West kämpfen. Da die DDR durch den Anschluß an die BRD im wesentlichen zu einem zusätzlichen Absatzmarkt geworden sei, wachse die Gefahr „einer Schere zwischen DDR und BRD“ immer mehr. Natürlich ist Gregor Gysi auch immer noch Sozialist, doch ein reformerischer: „Ich verstehe unter Sozialismus kein feststehendes System, sondern einen permanenten Prozeß der Demokratisierung“, sagte er, wobei allerdings die Demokratisierung auch das Eigentum und die Produktion umfassen müsse. Die PDS solle gegenüber der SPD eine ähnliche Antreiberrolle wie die Grünen übernehmen, allerdings in sozialen Fragen: „Der Druck von den Grünen hat die SPD ökologischer gemacht, da schadet es nichts, sie jetzt von links unter Druck zu setzen.“ Gysis Ziel ist ein „geeintes Deutschland, das viel besser ist, als die DDR es war, aber auch besser als die BRD“.

Selbst das Mitglied der Jungen Union aus Helmstedt, das sich nach dem PDS-Vorsitzenden zu Wort meldete, war schließlich „beeindruckt von der Offenheit und Ehrlichkeit“ des Redners, der es auch an schonungsloser Kritik an der SED und dem Stalinismus nicht fehlen ließ. Etwas schärfere Töne schlugen da schon die angereisten Vertreter des „Kommunistischen Bundes Westdeutschland“ und der DKP an, die sich als „Sozialistische Kräfte bei der Gründung der PDS ausgeschlossen fühlen und etwa beklagten, daß Gregor Gysi „immer nur Asche auf das Haupt der DDR streue“. Die zahlreichen linken Gruppierungen der BRD will die PDS bewußt erst einmal aus dem Gründungsprozeß der Linken Liste heraushalten: Sie sei als Personenbündnis angelegt. Sie sei zwar offen für alle Linken, aber nicht für Delegierte von Organisationen. Als „Personenbündnis“, so legte später der von seinem Amt enthobene IG-Metall-Bevollmächtigte Bernd Henn dar, werde nächste Woche auch der Landesverband Niedersachsen der Linken Liste/PDS gegründet: Henn will 15 bis 20 Gründungsmitglieder einladen. Ein Landesparteitag, der dann öffentlich das Wahlprogramm diskutiert, soll später folgen.

Jürgen Voges

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