: Die Pinochet-Diktatur hat Chile kollektiv traumatisiert
■ Ein Psychotherapeut in Santiago de Chile über die Auswirkungen der Repression auf die Menschen und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Aufarbeitung der Vergangenheit
INTERVIEW
Der 36jährige bundesdeutsche Diplom-Psychologe David Becker lebt seit 1982 in Santiago de Chile, wo er zusammen mit KollegInnen das Lateinamerikanische Institut für Psychische Gesundheit und Menschenrechte (ILAS) gründete. Becker betreut dort als Psychotherapeut Opfer der Militärdiktatur und arbeitet in der Forschung über politische Repression und ihre psychischen Folgen.
taz: Nach 16 Jahren Diktatur hat Chile nun wieder eine demokratische Regierung. Doch Pinochet ist immer noch der starke Mann im Hintergrund. Es war keine kleine Minderheit, die im Dezember bei den ersten freien Wahlen seit dem Putsch für die Militärdiktatur gestimmt hat. Ist das auch psychologisch zu erklären?
Becker: Wenn 16 Jahre lang konsequent unterdrückt und bedroht wird durch Folter, Mord, Gefängnis und Exil, dann betrifft das natürlich nicht nur die politisch Aktiven. Es ist auch etwas, das die gesamte Bevölkerung bedroht. Der Bevölkerung wurde Angst eingeimpft, und zwar nicht eine vorübergehende Angst, wie wir sie normalerweise gewöhnt sind: Angst wurde chronischer Bestandteil der sozialen Interaktionen. Viele Chilenen glauben, die Zahl der Toten, die die Repression gefordert hat, läge zwischen 30.000 und 100.000. Die tatsächlichen Zahlen, die sich auf Dokumentationen sowie eine hohe Dunkelziffer gründen, belaufen sich dagegen auf „nur“ 10.000 Menschen. Für die Bewertung der Repression spielt die Höhe der Zahl keine Rolle. Der Unterschied zwischen realer und angenommener Zahl zeigt aber die Effektivität der Terrorstrategie. Zum zweiten: Wenn 16 Jahre lange Dinge in Chile passieren, die auch die perversesten Phantasien übersteigen, dann gewöhnt man sich nach und nach daran. Es findet eine Art der Perversion statt, die zum Bestandteil der Psyche wird.
Eine Art Unterwerfung unter den Aggressor also?
Auch Leute, die nie gefoltert wurden, haben Verhaltensweisen entwickelt, die der Angst angepaßt sind. Wenn sie aber 16 Jahre lang Angst haben, dann gewöhnen die Leute sich daran, den Mund zu halten. Sie lernen das Mißtrauen gegenüber gesellschaftlichen Organisationen. Sie lernen, nichts mehr in Frage zu stellen, und statt dessen die repressiven Strukturen selbst zu wiederholen. Dieses Verhalten ist nicht mehr bewußt, aber man erkennt es in den sozialen Beziehungen und eben auch in den Wahlen: Es ist erfolgreich gelungen, die Linke richtig zur Seite zu schieben, sie hat eine schwere Niederlage erlitten. Aber nicht etwa, weil die Leute in Chile keine linken Überzeugungen mehr haben, sondern weil die Angst so wirksam ist, daß sie sagen: „Wir wählen alles Nichtkonflikt -Scheinende“. Eine weitere Konsequenz davon, daß die Bedrohung gegen alle gerichtet war, ist, daß die chilenische Gesellschaft immer noch große Schwierigkeiten hat, anzuerkennen, was den einzelnen Opfern wirklich passiert ist. Die Angst verleitet dazu, die Opfer der Diktatur nur als Randgruppe zu verstehen, in dem Stil: „Na gut, furchtbar, aber irgendwas werden sie schon angestellt haben.“
Immer wieder werden jetzt in Chile Gräber entdeckt, in denen Leichen von angeblich „Verschwundenen“ gefunden werden. Bricht die gesellschaftliche Verdrängung gegenüber dem Terror der Diktatur da nicht zusammen?
Doch: Obwohl es beängstigend ist, wenn man sich plötzlich mit so vielen Leichen befassen muß, hilft es, wenn jetzt plötzlich die Wahrheit über den Fernsehschirm flimmert. Es hilft, die Leute zu überzeugen, daß jetzt kollektiv über etwas geredet werden muß, und daß man nicht einfach einen Schlußstrich ziehen kann. Hier in Europa scheint das vielleicht seltsam zu sein, weil man schon seit Jahren soviel über die Verbrechen der Militärdiktatur gehört hat. Auch in Chile hat die Oppositionspresse darüber berichtet. Aber es macht eben einen unheimlichen Unterschied, ob man im linken Ghetto davon wußte, oder ob im Hauptkanal des chilenischen Fernsehens darüber berichtet wird, wie vermeintlich Verschwundene aus irgendwelchen Gräbern neben einem ehemaligen Konzentrationslager im Norden ausgegraben werden. Auch wenn es trist ist, wie klein die Möglichkeiten sind angesichts der realen Macht Pinochets, habe ich doch immer noch die Hoffnung, daß wirklich so etwas wie eine kollektive Bearbeitung des Horrors stattfinden kann.
Was bedeutet der Regierungswechsel für Ihre Patienten?
Wir haben jetzt viel mehr Patienten als früher, so daß wir uns zum Teil ziemlich überlastet fühlen. Viele trauen sich erst jetzt, zu uns zu kommen. Gleichzeitig geschehen auch jetzt wieder traumatisierende Dinge. Es klingt paradox, aber bei manchen Patienten kommt der Zusammenbruch erst, nachdem die Diktatur aufgehört hat.
Welche konkreten Ereignisse sind es, die so einen psychischen Zusammenbruch auslösen?
Zum Beispiel die Leichenfunde. Für unsere Patienten, die Angehörige der sogenannten „Verschwundenen“ sind und lange Zeit nach ihnen gesucht haben, ist es sehr beängstigend, wenn sie sie jetzt tot finden. Zugleich ist es auch erleichternd, weil sie sie begraben können. Wenn man weiß, daß der Mensch, den man liebt, tot ist, kann man ihn wenigstens betrauern. Solange man aber keine Gewißheit über seinen Tod hat, solange es keine öffentliche Anerkennung seines Todes gibt, kann man nicht die Hoffnung aufgeben, die geliebte Person lebend wiederzusehen. Denn das hieße psychologisch gesprochen - sie umzubringen. Andererseits ist es im Moment so, daß die Angehörigen ja nicht ihre Familienmitglieder wiederfinden, sondern Knochen. Und es wird wohl noch auf Jahre hinaus so gehen, daß bei jedem Knochen, der in Chile ausgegraben wird - ob er nun von einem Tier, einer Mumie oder sonstwem stammt - Menschen sich fragen müssen, ob das nun ihr Verwandter ist. Und das hat natürlich neue traumatisierende Wirkungen.
Sie haben auch in diesen Jahren der Diktatur Folteropfer und Angehörige von Verschwundenen behandelt. Hatten die Leute keine Angst, zu Ihnen zu kommen?
Unsere Patienten wußten, daß es unsere Institution gab und daß wir umsonst behandeln. Am Anfang standen wir zudem unter dem Schutz der Kirche, erst später haben wir uns selbständig gemacht. Mißtrauen haben sie schon, wenn sie zu uns kommen, aber ich billige das meinen Patienten zu. Ich beharre als Analytiker nicht auf dem Neutralitätskonzept, das manchmal in der Analyse verwendet wird. Wenn ich Mißtrauen spüre, sage ich nicht: „Das ist jetzt eine negative Übertragung auf den Therapeuten, die ich besonders deuten muß.“ Unsere Patienten wissen, daß wir mit ihnen solidarisch sind, daß wir auch als Therapeuten sehr klar die Verbrechen als Verbrechen benennen. Sie fühlen sich erleichtert, weil sie das Gefühl haben: „Endlich bestätigt jemand das, was ich erlebe, und tut nicht so, als ob ich verrückt sei.“
Sie bezeichnen Ihre Patienten als Schwersttraumatisierte. Wie zerstört die Folter psychische Strukturen?
Die einfachste Art, jemanden verrückt zu machen, ist ihn vor die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten zu zwingen, die beide gleichermaßen schlecht für ihn sind. In der Psychologie nennt man das double bind, eine Doppelbindung. In der Folter geschieht etwas Ähnliches: Der Gefolterte wird vor die Wahl gestellt, entweder sein Leben zu verteidigen oder seine Überzeugungen. Verteidigt er seine Überzeugungen, erklärt er sich im Prinzip bereit, umgebracht zu werden. Verrät er aber seine Genossen und seine Überzeugungen, dann verrät er das, was sein Leben lebenswert macht. Beide Gruppen fühlen sich schuldig. Und diese Schuld, die ja nur eine künstlich injizierte ist, ist die Hauptschweinerei an der Folter. Denn Folter ist ja nie nur darauf ausgerichtet, Informationen von Leuten zu erhalten. Sie soll vor allem Subjekte in ihren Grundfesten erschüttern und sie zerstört wieder entlassen.
Die Zerstörung wird über das Wecken von Schuldgefühlen betrieben?
In der Folter werden die Menschen gedemütigt bis zum Geht -nicht-mehr. Psychoanalytisch gesprochen würde ich sagen: Über die Über-Ich-Zerstörung wird die Ichzerstörung betrieben. Und so wird so etwas wie ein künstlicher psychotischer Zusammenbruch erzwungen. Den Menschen wird all ihr Empfinden für Menschlichkeit kaputtgemacht. Man überzeugt sie davon, daß alles mit ihnen machbar ist. Sie werden gedemütigt bis zu einem Punkt, wo sie nicht einmal mehr das Gefühl haben, um Hilfe bitten zu dürfen. Deshalb ist es auch so wahnsinnig schwierig für sie, darüber zu reden.
Die Störungen, die unsere Patienten haben, sind keine Psychosen oder Neurosen, sondern schweres politisches Leid, das an einzelnen verursacht wurde. Das, was ich als individuelle Ich-Zerstörung beschreiben kann, ist gleichzeitig der Diktatur dienlich. Je größer die individuelle Zerstörung, desto funktionaler ist sie für die makrosoziale Struktur. Das Trauma ist also nicht nur individuelles, sondern auch Teil einer Kollektivprozesses. Deshalb gehen wir davon aus, daß Therapie ein erster Schritt dazu ist, das, was einmal politisch und sozial war, wieder politisch und sozial werden zu lassen. Das ist auch individuell weniger krankmachend, denn die Opfer würden viel mehr über das reden, was ihnen passiert ist, wenn es gesellschaftlich anerkannt wäre.
Wie kann solch eine Resozialisierung konkret aussehen?
In Chile geht es vor allem darum, daß sprechbar wird, was passiert ist, warum und wo. Dafür gibt es viele Ansätze. So war es wichtig, daß Präsident Aylwin nach seinem Amtsantritt im Nationalstadion die erste kollektive Anerkennung dafür gegeben hat, daß in diesem Stadion gefoltert und gemordet wurde: Auf einer großen Tafel erschienen die Namen aller dort Ermordeten. Ebenso wichtig ist, daß im Fernsehen darüber diskutiert wird und daß dabei klar herauskommt, was den Menschen wirklich passiert ist. Dann kann es nicht mehr verleugnet werden. Trauerarbeit heißt auch kollektives Sprechen, so widersprüchlich es auch sein mag, Sprechen in einem Gesamtkollektiv, das sich so weit als möglich darum bemühen soll, daß die Subjekte dieser chilenischen Geschichte anerkannt werden.
Welche Chanchen sehen Sie dafür in Chile? Wird es so sein wie in Argentinien, wo die Folterer mittlerweile wieder etabliert sind und die Opfer nahezu vergessen?
In Argentinien lief zwei Wochen lang Horrorshow im Fernsehen, und dann ging das Schweigen weiter. In Uruguay ist die Situation ein bißchen besser gewesen, obwohl es ja eine Volksabstimmung (über eine Amnestie der Menschenrechtsverletzer, A.G.) gegeben hat, in der schließlich für das Vergessen gestimmt wurde. In Chile wird es keine Volksabstimmung geben, das hoffe ich jedenfalls. Chile hat vielleicht auch etwas günstigere Voraussetzungen, mit der Vergangenheit in einer Art kollektiven Bearbeitung umzugehen, als die Bundesrepublik. In Chile wurden ja kein Krieg verloren oder die Wirtschaftsstrukturen aufgelöst. In Chile ist unter großen Mühen etwas zu Ende gebracht worden, was nicht mehr aushaltbar war. Außerdem müssen in Chile Täter und Opfer weiterhin zusammenleben, während hier in Deutschland die Opfer ja entweder umgebracht wurden oder ausgewandert sind.
Interview: Annette Goebel
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