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Leben mit dem Todeswind

■ Schneeberg - Radon und 14.000 Becquerel im Wohnzimmer - „Aber wir lüften viel“ Im sächsischen Erzgebirge und südlichen Thüringen sind 1.200 Quadratkilometer verseucht

J. Grolle und M. Wellershoff

Schneeberg ist eine gut erschlossene Stadt im sächsischen Erzgebirge: Silber und Uran durch den Bergbau, die Wälder durch die Touristen, die Sensationen durch die Journalisten. Das hat durchaus Vorteile. Innerhalb eines einziges Tages kann jeder Reporter hier einen handfesten Skandal recherchieren. Auf kürzestem Wege wird er an die von den Medien repräsentativ ausgewählten Opfer verwiesen: Günther Thiele, weil er in einem radonverstrahlten Haus wohnt und seinen Vater durch Lungenkrebs verlor; Elisabeth Wagner, weil zwei ihrer sieben Kinder sehr früh verstarben.

Die gefestigte journalistische Infrastruktur hat auch ihre Schattenseiten: Aus naiven Eingeborenen ist vorsichtige Laienprominenz geworden.

Natürlich wußten wir davon nichts, als wir nach Schneeberg fuhren. Wir wollten unsere Toten exklusiv.

Der Ressortleiter hatte seinen Wissensstand nur knapp zusammengefaßt. Im Mittelalter wurde in Schneeberg Silber geschürft. Was man nicht wußte: Im Haldenschutt befand sich radioaktiv strahlendes Uran. Heute stehen die Schneeberger Häuser auf diesen künstlichen Bergen. Nach dem Krieg begann dann der Uranbergbau. Was vierzig Jahre lang den Russen zum Aufbau ihrer Atommacht diente, ist heute eine ökologische Wüste: 1.200 Quadratkilometer im sächsischen Erzgebirge und südlichen Thrüringen sind verseucht.

Ein Arzt der viel weiß

aber trotzdem schweigt

Nach kurzem Brain-storming während der Autofahrt stand unser Konzept: erstens: Ärzte packen aus, zweitens: Strahlenbabys, drittens: Sanierpläne, viertens: Arbeitsplätze: 40.000. Doch vor Ort ergaben sich schon erste Schwierigkeiten bei Punkt eins unseres Konzepts. Denn alles, was der Gebietsarzt Rainer Schneider auspackte, war sein Diktiergerät: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß das, was ich sage, meist nichts mit dem zu tun hat, was in der Zeitung steht“, diktiert er schon zur Begrüßung aufs Band. Anschließend sagte er nichts, und das mit wenig Worten.

Nach ersten vergeblichen Probebohrungen zum Thema Krebsfälle und radonverstrahlte Bergarbeiter versuchten wir es mit unverfänglicheren Lockerungsübungen über das 1915 gegründete Radiumbad. Doch jeder Versuch, ihm in ungezwungener Atmosphäre ungeklärte Todesfälle oder wenigstens zitierfähige Sätze zu entlocken, schlugen fehl. Erbarmungslos zeichnete das Tonband jede seiner Null -Aussagen auf.

Es blieb uns nur zu konstatieren: Dieser Arzt ist verdorben und abgegrast. Jede ergiebige Ost-Naivität hatten unsere Vorgänger ihm ausgetrieben. Da blieb nur der Strategiewechsel: „Warum antworten Sie so defensiv?“ Da endlich schaltete er das Tonband ab und ging zum Gegenangriff über: „Sie denken, Sie kommnen hier in ein Lepradorf“, womit er recht hat, dachten wir und stritten es ab. „Sie wollen uns hier als Tal des Todes darstellen, wie die 'Bild-Zeitung‘ es gemacht hat. Sie kommen einen Tag hierher, und wir müssen hinterher mit den Folgen leben“, womit er verdammt recht hatte. Einen Tag hatten wir Zeit für unseren Skandal. Inzwischen war es schon elf Uhr, und wir hatten nichts als Nichtigkeiten.

„In einem Tal des Todes will doch keiner leben. Wir wollen nicht, daß die Leute alle weggehen“, fuhr er fort. „Ich habe mich mit Pastor Krusche und dem Bürgermeister abgesprochen, Journalisten nur noch vorsichtig zu antworten.“ Ausgerechnet die! Mit denen waren wir gleich anschließend verabredet.

Bürgermeister und Pastor halten sich an Absprachen

Bürgermeister Karl Henselin hielt sich an die Absprache. „Die Bürger der Stadt haben überhaupt keinen Anlaß, sich große Sorgen zu machen“, sagte er. „Lediglich 2,6 Prozent der Häuser liegen oberhalb von 7.500 Becquerel pro Kubikmeter Luft.“ Endlich! Ertappt! Das Dreißigfache des Grenzwerts. Das war die Zahl, die wir suchten. Jetzt brauchten wir nur noch die Belegopfer.

Die dramatischen Vorzeigeopfer sollte uns Pastor Krusche liefern. Schließlich hatte er schon zu Stasi-zeiten eine Bürgerinitiative gegründet und auf Öffentlichkeit gepocht. Zu unserem Entsetzen hatte er jedoch die Fronten gewechselt. Aus dem Aufrührer war ein Abwiegler geworden.

„Wir sind doch kein Tschernobyl“, wiederholte er die Worte des Bürgermeisters, und anschließend mußten wir uns eine Predigt in Sachen Verantwortung der Presse anhören. Statt der Belegopfer zückte er einen Ordner voller Belegartikel, die er fein säuberlich ausgeschnitten und in Klarsichthüllen eingeheftet hatte. Etwas demotiviert beobachteten wir, wie unsere Visitenkarte ihren Platz in seinem Album fand - in guter Gesellschaft neben Hessischem Rundfunk, ZDF, 'Spiegel‘ und 'Stern‘.

Was half's, wenn er uns von dem Mann erzählte, der jahrelang ein Haus gebaut hatte, das nun mit 20.000 Becquerel verstrahlt ist? Er wollte aus seinem Strahlenopfer nicht noch ein Presseopfer machen lassen - und verschwieg den Namen. „Vergessen Sie nicht, mir ein Belegexemplar zu schicken“, sagte Pastor Krusche zum Abschied.

Türklinken putzen und Witwen schütteln

Nun halfen nur noch die wahren Fähigkeiten des Boulevard -Journalisten: Türklinken putzen und Witwen schütteln. „Sie müssen heiß sein“, hatte der Ressortleiter gesagt. „Frag‘ du mal“, schubste einer den anderen vor.

Jetzt kam uns endlich die gute Infrastruktur zugute. Schon in der Apotheke wußte man Bescheid: „Die Thieles waren schon im Fernsehen. Die wohnen auf der Sauschwarte. Berg hoch, erste Straße rechts.“

So einfach wollten wir es uns nicht machen. Wir wollten unser eigenes Opfer und fuhren erst die zweite rechts. Reporterglück: Der freundliche Herr im weißen Unterhemd, der uns die Tür öffnete, hatte seinen Bruder durch Lungenkrebs verloren. In seinem Haus stehen seit einem Jahr die Radondosen. „Keine Ahnung, welche Werte die messen“, sagt er.

Todeswind im

Wohnzimmer

Als wir aber ein Foto von ihm machen wollten, wehrte er ab und verwies uns auf die Gepflogenheiten: „Das machen hier immer die Thieles.“ - Immerhin ein echtes Opfer, wenn auch nicht exklusiv. Um 16 Uhr sinken die Ansprüche.

Inmitten von Wiesen auf einer kleinen Anhöhe liegt Thieles Haus. Von dort hat man einen phantastischen Blick auf die kleine Stadt Schneeberg. „Genau unter dem Haus verläuft der Griefener Schacht“, erzählt ein Nachbar. „Aus dem bläst der Todeswind. 80.000 Becquerel haben sie da unten gemessen.“ Doch der Nachbar war kein akzeptables Opfer, weil er die Gefahr bestritt. „Ich habe mir gerade da oben ein Haus gekauft - 14.000 Becquerel im Wohnzimmer. Aber wir lüften viel.“

Thiele freute sich über den Pressebesuch: „Es war schon länger keiner mehr hier.“ Er konnte uns dann tatsächlich bestätigen, was das Fernsehen schon über ihn berichtet hatte: „Ich kann Ihnen auch eine Videokassette gerne mal ausleihen. Die Fernsehleute waren zwar ein bißchen dreist, aber was sie daraus gemacht haben, war ganz gut.“

Sein Vater war Schuhmacher, wurde aber Ende der fünfziger Jahre gezwungen, im Uranbergwerk zu arbeiten. „Andere hackten sich einen Finger ab, um nicht da unten arbeiten zu müssen.“ Grenzwerte gab es nicht, und es wurde trocken gebohrt: Thieles Vater bezahlte es mit dem Leben. Mit 54 Jahren starb er an Lungenkrebs, „Schneeberger Krankheit“ genannt.

Nicht nur am Arbeitsplatz, auch zu Hause war er den Strahlen ausgesetzt. Das radioaktive Gas Radon dünstete aus den Schächten in Thieles Keller. 40.000 Becquerel wurden dort gemessen.

Jetzt war unsere Geschichte rund.

Nur über eines konnten wir uns lange nicht einigen: „40.000 Becquerel“ oder „das 150fache des Grenzwerts“ - was klingt dramatischer?

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