piwik no script img

GET YOUR KICKS

Die Sehnsucht nach den Kicks auf der Route 66  ■ VON GITTE SCHEFER

Irgend etwas war faul an der Sache. Das spürte sie instinktiv. Diesen Blick, mit dem der Besitzer des Krämerladens erst sie und dann das Telefon an der Wand angesehen hatte, kannte sie nur zu gut. Sie mußten weg hier. Sofort, ehe er die Bullen gerufen hatte. Clyde Barrow wartete bereits mit laufendem Motor auf sie, als sich Bonnie Parker neben ihn in den Sitz warf, sofort zur Waffe langte. Dann brauste ihr Wagen los – auf einer der meistbesungenen und –beschriebenen Straße dieser Welt, der legendären Route 66, der Straße ihrer Flucht.

Route 66, für John Steinbeck die motherroad und für Henry Miller die „schwarze Schlange, die in den Himmel verführt“, ist eine Straße mit Geschichte und Geschichten. Millionen von Menschen sind ihren Versprechungen gefolgt. Den einen brachte sie Wohlstand und Glück, den anderen Enttäuschung und auch den Tod.

In grauer Vorzeit, da war sie nichts weiter als ein Trampelpfad. Transportweg für Indianer und Pelzhändler, Transportweg für die Kamele der amerikanischen Armee, die eine Route nach Kalifornien auskundschaftete. Transportweg für die forty-niners, die das Goldfieber gepackt hatte, und Transportweg für die Ochsenkarren der Siedler, die die trügerische Hoffnung auf Land nach Kalifornien gelockt hatte.

Mit dem raschen Aufkommen der Automobile zu Beginn dieses Jahrhunderts mußte eine Straße her. Durchgehend von Ost nach West, quer durch Amerika. 1926 wird aus der alten wagon –route der Siedler und Goldsucher die Route 66.

Nicht nur die 'New York Times' befürchtete seinerzeit, daß die profanen Zahlen den Straßen ihre Romantik rauben würden. „Ein Reisender mag vielleicht Tränen auf dem Lincoln Highway vergießen oder Träumen auf dem Jefferson Highway nachhängen. Aber wie“, fragte sie, „soll er Kicks auf einer 46, 55, 33 oder 21 bekommen?“ Doch es kam anders! Ein halbes Jahrhundert lang hatten Reisende ihre Kicks auf der Route 66. 66 wurde zu einer Legende, zu einem Mythos. Einem Mythos, der besagt, daß du dem wirklichen Amerika auf der Straße begegnest, daß dich die Straße ins Herz von Amerika führt.

Suche nach dem

wahren Amerika

Zuerst war Route 66 die Straße für die Pioniere des Autotourismus, die sich in ihren Automobilen auf die Suche nach dem wahren Amerika machten. Auch wenn sie nicht die ersten waren, so begriffen sie sich doch als Nachfolger der einstigen Pioniere und Eroberer des amerikanischen Kontinents, nach denen sie nun ihre Autos benannten: De Soto, Hudson, Cadillac. Und wie ihre berühmten Vorfahren machten sich auch die modernen Autotouristen auf Entdeckungsreise in eine für sie neue, unbekannte und fremde Welt.

In den zwanzigern und frühen dreißiger Jahren hatte Reisen noch viel mit Abenteuer und Gefahr zu tun. Staub und Schlamm waren anfangs die größten Gefahren, die auf der open road, jenem geheimnisvollen und unbekannten Ort, lauerten. Und bis in die dreißiger Jahre hinein wagte auch kaum jemand, nachts zu fahren. Aber selbst als die Straßen zunehmend asphaltiert wurden, gab es noch genügend Dinge, die den Mittelklassetouristen ängstigten: falsche Abzweigungen, die in der Wildnis enden konnten, kochende Kühler und abgebrochene Anlasserkurbeln, Geschwindigkeitsübertretungen, für die man in einem trostlosen Kleinstadtgefängnis büßen mußte, unbekannte Orte, fremde Menschen und fremdartige Speisen.

Wie beruhigend war es, als man bald überall so vertraute Produkte wie Coca-Cola im Motelautomaten, in den Betten eine bekannte Matratzenmarke oder auf den Böden Beläge fand, die die ganze Nation kaufte.

Aber wie langweilig und banal auch.

Szenenwechsel. Ein kalter Aprilmorgen in Oklahoma. Eine Farmersfamilie packt eilig einige Habseligkeiten zusammen. Matratzen, ein paar Möbelstücke, eine alte Wanduhr, die schon den Großeltern gehört hat, zwei große Kartoffelsäcke, Körbe mit Obst, den Vogelbauer. Was nicht in den Wagen geht, wird obendrauf geladen, sorgfältig festgezurrt: der Käfig mit den Hühnern, zwei alte Stühle, eine Kiste mit Dosen. Dann läßt sich der Augenblick nicht länger aufschieben, der Augenblick, um Abschied zu nehmen. Mit Tränen in den Augen drehen sich die Farmersleute noch einmal um, werfen einen letzten wehmütigen Blick auf ihr Haus, ihr Stück Land, auf all das, was ihnen einmal gehört hat. Alles, was ihnen jetzt noch geblieben ist, sind die paar Habseligkeiten in ihrem alten Ford und die Hoffnung, die für sie Kalifornien heißt.

Die Legende

einer Straße

Solche und ähnlich bewegende Szenen haben sich in den dreißiger Jahren zu Tausenden abgespielt. 500.000 Farmer, deren Existenz vernichtet ist, fliehen nach Westen. Sie fliehen vor der großen Depression, dem rapiden Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte, vor mehreren Mißernten und vor allem vor den verheerenden Sandstürmen, die das Land zur dust bowl, zur Staubschüssel Amerikas verwandelt haben.

Am ärgsten hat es die Farmer aus Oklahoma, Kansas, Colorado, New Mexico und Texas getroffen. Sie sind die okies, arkies und texies, die auf der Route 66, der größten Emigrantenstraße Amerikas, flüchten.

Der Countrysänger Merle Haggard ist noch nicht geboren, als seine Familie am Morgen des 15. Juli 1935 Oklahoma verläßt. Länger als ihre Nachbarn und Freunde hatten die Haggrads dem Staub und den Mißernten getrotzt, hatten Mastschweine zu einem Spottpreis verkauft, sich immer irgendwie durchschlagen können. Bis ein Feuer ihre Scheune, ihr Auto und ihr Futter zerstörte. Dann war auch für sie der Moment gekommen, die Heimat zu verlassen. Sie hatten etwas mehr Glück als die meisten ihrer Freunde und Verwandten, denen sie auf ihrem Weg nach Kalifornien begegneten, fanden immer eine Arbeit, die erträglich war. Aber mitten in der Wüste, der Mojave-Wüste, erwischte es sie. Ihr alter Chevy gab seinen Geist auf. Ohne Wasser schien ihre letzte Stunde gekommen zu sein. Dann tauchte dieser Junge auf dem Fahrrad auf, gab ihnen Wasser und half, das Autor wieder flott zu machen. „Jeder hatte uns behandelt wie Dreck“, erinnert sich Flossie Haggard, heute Mrs. Scott, in den siebziger Jahren, „und ich sagte diesem Jungen: Ich bin froh zu sehen, daß es auf dieser Welt noch ein paar anständige Menschen gibt.“

Die Erfahrungen von Flossie Haggard gleichen den Erfahrungen der Okie-Familie Joad und ihrer Leute, deren Schicksal John Steinbeck in seinem Buch Früchte des Zorns erzählt. Steinbeck war zu einem der Ihren geworden, hatte ihre Sorgen geteilt, mit ihnen gelebt und garbeitet. Als Pflücker in den Bohnenfeldern, an der Seite des Wanderarbeiters Tom Collins, den er später zum technischen Direktor bei John Fords Verfilmung seines Romans macht.

Als sein Buch, das 1962 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde und letztes Jahr anläßlich seines 50jährigen Jubiläums neu aufgelegt wurde, 1939 erschien, gerieten die mächtigen Pflanzer und ihre Organisation „Die Vereinigung der Farmer“ in Rage. Sie attackierten ihn als Juden, als Perversen, als Kiffer und Säufer. In seiner Heimatstadt wurde sein Buch mehrmals verbrannt. Und noch heute ist es das zweitgebannte Buch in amerikanischen Schulen und öffentlichen Büchereien.

Steinbeck hatte den Mächtigen zu genau auf die Finger geschaut. Und zu eindeutig hatte er sich auf die Seite der Unterdrückten, der okies gestellt, hatte schonungslos offen dargelegt, wie mit Verlierern in Amerika umgegangen wird: „Sie hatten gehofft, ein Heim zu finden, und fanden nur Haß. Die Landbesitzer haßten sie. Und die Kaufleute haßten sie. Weil sie kein Geld hatten. Und die Arbeiter haßten die okies, weil ein hungriger Mensch arbeiten muß. Und wenn er arbeiten muß, wenn er keine Arbeit hat, gibt ihm der Lohnzahler automatisch weniger für seine Arbeit. Und dann kann keiner wieder mehr kriegen.“

Gegen diese Lohndrücker und Hungrigen, die in Lumpenstädten aus Kartons und Bretterbuden lebten, bis sie wieder Geld hatten, um weiterzuziehen, die sich von Abfällen und faulen Früchten ernährten, die die Pflanzer weggeworfen hatten, die jede Arbeit zu jedem Preis annahmen, um ihre kranken und geschwächten Kinder am Leben zu erhalten, gegen diese Eindringlinge bewaffneten sich die Städter und Bürgerwehren mit Spitzhacken, Gewehren, Knüppeln, mit Totschlägern und Gas. „Haut ab“, sagten sie, „oder wir bringen euch um!“

Pure Lust

am Dasein

Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre entdeckte eine andere Generation die Route 66. Die Beat-Generation. Eine Generation, die von Unruhe und Wut getrieben ist. Wut auf die bigotten und satten Spießer. Wut auf eine verlogene Nation, die sich nach dem Krieg und der Atombombe zum Gralshüter der Moral aufspielt, die unter McCarthy Tausende von Andersdenkenden, Kommunisten, Schwulen, kritischen Filmemachern, Lehrern, Schriftstellern verfolgt. Der Beat und die Beatniks verkörpern all das, was den selbstgerechten, ehrbaren Bürgern provoziert: Drogen, Buddhismus, freie Liebe, Homosexualität, wilde Autotouren, Rotweinorgien, laute, schräge Musik, der Jazz und der Bebop.

Freiheit, Intensität, Bewegung, Schnelligkeit – die pure Lust am Dasein. So beschreibt Jack Kerouac, der neben William Burroughs, Allen Ginsberg und Neal Cassidy zu den Protagonisten der Beat-Generation zählt, das Lebensgefühl seiner Generation in On the Road, dem Kultbuch der Beatniks.

Sie sind ständig unterwegs, ständig on the road. Denn, so Kerouac: „Die Straße ist das Leben.“ Die Helden in Kerouacs Buch wie Dean Moriarty, sein literarischer Weggefährte Neal Cassidy, fahren alle gut und schnell, berauschen sich an der Geschwindigkeit und Gefahr, die Teil des thrill der Straße sind. Sie sind alle existentielle driver, Fahrer ohne genaues Ziel und darin verwandt dem rebel without a cause.

Den Beatniks folgten in den sechziger Jahren die Merry Pranksters in Ken Keseys Magic Bus. Ausgestattet mit einer riesigen Stereoanlage und LSD, wiederholten sie aufs neue die Reisen, die Kerouac und Cassidy in ihrem alten Hudson quer durch Amerika unternommen hatten. „Weiter“ klebte als Reiseziel über der Windschutzscheibe des Busses. 1964, mit Neal Cassidy als Fahrer der Merry Pranksters Bustour, ist ihr Ziel das psychedelische LSD-Versuchslabor von Timothy Leary in Millbrook, New York, beschrieben in Tom Wolfes Unter Strom.

Mitte der siebziger Jahre ist dann alles vorbei. Ein riesiges Autobahnnetz, die Interstates, überwuchert das Land. Route 66 hat ausgedient, wird durch die Interstate 40 vereinnahmt. Route 66 verschwindet, fast ohne Spur: auf Karten nicht mehr verzeichnet, an vielen Stellen längst von Gras und Unkraut überwuchert, Reste, die plötzlich im Nichts enden.

Und mit ihr verschwindet allmählich all das, was diese Straße so reich gemacht hat: die zig Raritätenstände entlang der Straße, die Krokodilgruben und Schlangenfarmen, die riesigen Dinosaurier und wilden Bären in den Käfigen, die „teepee“-Motels und Indianerdörfer, die liebevollen „Ma-and –Pa-Restaurants“ mit ihrem hausgemachten Apfelkuchen, die rooms to rent, die phantasievollen, oft handgemalten Reklameschilder – jene faszinierende roadside culture, die in den zwanziger Jahren entstanden war.

Heute ist alles öd und leer. Seelenlose Motelketten und ewig gleich aussehende Fastfood-Restaurants an der Superhighway haben alle regionalen Besonderheiten in Architektur und Speisen verdrängt, glatt gemacht. Geblieben ist nur die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einer Straße, die einmal so viel bedeutet hat: Neugier, Abenteuer, Gefahr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen