: Dichtung und Wahrheit
■ Erster Beitrag aus Italien
Venedig (taz) - Antonio verkauft Kartoffeln, ohne Lizenz. Für die Lizenz braucht er einen Schulabschluß. Um den zu machen, braucht er Geld. Deshalb verkauft er Kartoffeln. Ein Teufelskreis. Mario alias Mary, ein Strichjunge und Transsexueller, kriegt vier Jahre Gefängnis, weil er einem Freier die Goldkette gestohnlen hat. Und King Kong wird erwischt, als er ein Autoradio klauen will. Der Polizist erschießt ihn auf der Flucht. Gegen den Polizisten wird keine Anklage erhoben. Wahre Geschichten aus Palermo. Marco Risi hat einen Spielfilm daraus gemacht: „Ragazzi souri“ - Sozialkitsch von der edleren Sorte. Das Brisante daran: Die Jugendlichen sind keine Schauspieler. Sie kommen von der Straße, aus Palermo. Der Film lehrt, was wir schon wissen: Gefängnisse sind grausam, Eltern sind machtlos, und die Sozialarbeiter kollaborieren mit der Polizei. Marco Risi meint es gut: Er will aufmerksam machen auf die sozialen Probleme in Sizilien, aber zu sehen ist etwas anderes: seine homoerotische Faszination für schöne Knaben, seine Lust an der Gewalt. Wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn er wüßte, was er tut. Einmal wollen die Jungs eine Frau vergewaltigen, schleppen sie in ein Abbruchhaus und der erste macht sich über sie her. Da fährt die Kamera auf das Gesicht von Natale. Das Mädchen schreit. Natales Gesicht wird noch ernster. Dann schimpft er: Hört auf! Erleichterung im Kino was für ein Mann! Marco Rise will, daß wir uns auf Natales Seite schlagen. Ich werde niemals Sympathie empfinden für Männer, die versuchen, eine Frau zu vergewaltigen. In letzter Sekunde davon abzulassen, ist keine Heldentat. Aber die Erbärmlichkeit von Natale interessiert Risi nicht; in seinem Täter-Opfer-Schema hat sie keinen Platz. Als ich ins Hotel zurückkomme, steigen sechs Jungs aus einem Taxi. Die aus der Vergewaltigungsszene. Auch Natale. Sie wohnen auf der gleichen Etage, in den Zimmern nebenan. Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Marco Risi hat seinen Schützlingen - es ist sein zweiter Film mit ihnen - keinen Gefallen getan. Er hat nur meine Vorurteile bestätigt. „Ragazii souri“ wird Kasse machen in Italien. Die Jungs aus Palermo sind arbeitslos, heißt es im Nachspann. Und daß sie alle Schauspieler werden wollen. Ein obszöner Film.
Christiane Peitz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen