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„Jeder soll seine Stasi-Akte vernichten können“

■ Volkskammer vertagt Debatte über Einigungsvertrag / Streit um Stasi-Dossiers hält an / Bonn lehnt Nachbesserungen ab / Überraschender Vorstoß des DDR-Unterhändlers Krause: Jeder soll Zugang zu seiner Akte haben

Berlin (afp/taz) - Die DDR-Volkskammer hat am Donnerstag die geplante Debatte über den Einigungsvertrag kurzfristig verschoben. Nach der Antragsbegründung durch Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) vertagte Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) die erste Lesung auf den nächsten Donnerstag.

Offiziell begründete die Parlamentspräsidentin dies mit der verspäteten Ausgabe des Vertragstextes an die Abgeordneten. Dem Vernehmen nach soll durch den Aufschub jedoch Zeit für einen Notenwechsel mit Bonn über eine konsensfähige Regelung für den Umgang mit den Stasi-Akten gewonnen werden.

Die Ratifizierung des Einigungsvertrages in der Volkskammer verschiebt sich dadurch auf den 19.September.

In einer persönlichen Erklärung wies der Parlamentsvizepräsident Wolfgang Ullmann namens der Fraktion Bündnis 90/Grüne noch einmal auf die Bedeutung der Stasi -Akten-Frage für die DDR-Bürger hin und solidarisierte sich mit den Besetzern des zentralen Stasi-Archivs in Ost-Berlin, die gegen eine Übergabe der Akten an den Bund protestieren. Er forderte, in den Briefwechsel das von der Volkskammer beschlossene Gesetz zum Umgang mit den Stasi-Akten „in vollem Umfang seiner rechtlichen Tragweite“ aufzunehmen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei eine erstrangige Aufgabe bei der Wiederaufrichtung der schwer gedemütigten Bevölkerung der Länder auf dem Boden der DDR.

DDR-Staatssekretär und Chefunterhändler Günther Krause (CDU) hat sich dafür ausgesprochen, daß DDR-Bürger die über sie angelegten Stasi-Akten nicht nur einsehen, sondern auf Wunsch auch selbst vernichten können: „Ich werde mich dafür einsetzen, daß wir möglichst noch ein Recht vereinbaren, daß es dem Bürger gestattet, über seine Akten informiert zu werden. Ich denke schon, daß jemand auch den Antrag stellen kann, seine Akten selbst zu vernichten - das sollte künftig eine individuelle Entscheidung sein.“

Der Staat sollte nur dann die Möglichkeit haben, dieses Recht anzufechten, wenn die betreffenden Akten zur Klärung schwerer Verbrechen herangezogen werden müßten, so Krause. Er ging davon aus, daß diese Fragen in den nächsten Tagen mit der Bundesregierung geklärt werden. Ein Scheitern des Einigungsvertrages aufgrund des Streits über den Verbleib der Akten des Staatssicherheitsdienstes schloß Krause aus.

Innenminister Diestel erklärte derweil gegenüber der taz, es bestehe zwischen ihm und den Besetzern „weitgehend Übereinstimmung“ in den Vorstellungen, wie mit den Stasi -Akten umgegangen werden solle. Eine Antwort aus Bonn kenne er jedoch nicht.

Der deutschlandpolitische Sprecher der Bonner Union, Eduard Lintner (CSU), hat Forderungen der Besetzer, die Stasi-Akten in der DDR dezentral zu lagern, zurückgewiesen. In einem solchen Fall könnten bisher noch unerkannte Stasi -Mitarbeiter Zugriff auf die Akten haben, sagte der CSU -Politiker.

Lintner plädierte dagegen für eine Lagerung der Akten im Koblenzer Bundesarchiv. Zugleich solle man den Besetzern zusichern, daß bundesdeutsche Nachrichtendienste keinen Zugriff auf die Akten nehmen könnten. Auch sollten Betroffene die Akten einsehen können, meinte der CSU -Politiker und sprach sich zugleich für die Einsetzung eines parlamentarischen Stasi-Untersuchungsausschusses nach dem Beitritt der DDR aus.

Biermann jetzt auch Besetzer

Eine „Benutzerordnung“ für die Stasi-Akten und -materialien hat der stellvertretende FDP-Vorsitzende Gerhart Baum am Donnerstag im Saarländischen Rundfunk vorgeschlagen. „Wir sind jetzt dabei, mit dem Innenminister zu sprechen, ob man die Benutzerordnung nicht so ausstattet, daß einige Bedenken wegfallen“, sagte er in einem Interview. Gleichzeitig wandte sich Baum gegen jede Nachbesserung des Einigungsvertrages im Zusammenhang mit den Stasi-Akten.

Unterdessen geht die Aktion in der Normannenstraße weiter. Die BesetzerInnen wandten sich in einem offenen Brief an Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Darin fordern sie, das Volkskammergesetz über den Verbleib und die Verwaltung der rund sechs Millionen Stasi-Akten in den bereits unterzeichneten Einigungsvertrag aufzunehmen. „Ansonsten sei in einem vereinten Deutschland der innere Frieden in Gefahr.“ Die Polizei läßt keine Journalisten auf das Gelände. Der einst aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann hält sich bei den BesetzerInnen auf.

Auch die Mahnwache vor dem Tor hält weiter ihren Posten. Ständig kommen Passanten, ermutigen zum Durchhalten und machen ihrem Zorn Luft. Die Menschen seien im Herbst '89 nicht auf die Straße gegangen, um sich nach der Stasi von anderen Geheimdiensten bespitzeln zu lassen.

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