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Priester und Lorelay

■ Über Selbstklischees von Kopfarbeitern

Von Volker Heins

Zu den auffälligen jüngeren Trends der kulturellen Diskussion gehört die verstärkte Beschäftigung von Intellektuellen mit sich selbst. Diese Selbstthematisierung findet einerseits statt im Rahmen der atmosphärisch relevanten Großdebatten um „Moderne“ und „Postmoderne“ und „Verantwortung“, andererseits auf der Ebene von wissenschaftssoziologischen und -politischen Diskussionen. Der stumme Zwang zur Nabelschau ist im akademischen Milieu u.a. auf die stets drohenden Mittelkürzungen zurückzuführen, denen Universitäten und staatlich finanzierte Institute aus wirtschafts- und fiskalpolitischen Gründen ausgesetzt sind. Daher auch die defensive Note des neuen Intellektuellen -Diskurses, wie sie neuerdings am stärksten von Pierre Bourdieu akzentuiert wird, der in der New Yorker Zeitschrift 'Telos‘ einen internationalen „Korporatismus“ der Intellektuellen gefordert hat, und zwar mit dem Ziel einer reflexiven „Verteidigung der Verteidiger“ universeller Werte und Rechte. Auch der Lärm um die Postmoderne läßt sich als Defensivmaßnahme zunehmend marginaler Intellektuellenschichten deuten.

Die europäischen Intellektuellen sind einem vielschichtigen Marginalisierungs- und Reflexionsdruck ausgesetzt, der die Abschiedssemantik der Postmodernisten begünstigt. Ich nenne sechs Punkte:

Erstens gibt es eine Marginalisierung durch den Prozeß der globalen ökonomischen und politischen Umstrukturierung, dem die Intellektuellen ebenso wie die Politiker hinterherlaufen („non-decisions“ auf der einen, „non -cognitions“ auf der anderen Seite). Zweitens gibt es die weiterhin wirksame Marginalisierung der europäischen Intellektuellen durch die transnationale, postalphabetische kulturelle Hegemonie der USA. Drittens sind die europäischen Linksintellektuellen innenpolitisch marginalisiert, nachdem sich gezeigt hat, daß die Suche nach einem „revolutionären Subjekt“ vergeblich ist; viertens ist eine gewisse Marginalisierung der männlichen Intellektuellen durch den akademischen Feminismus zu beobachten. Fünftens reduziert die weltweit zu beobachtende Ausdehnung von sogenannten „short-cycle“ oder „non-university“ Institutionen (NUIs) im Bereich des Hochschulwesens die Existensbasis des uns vertrauten Intellektuellentyps; und sechstens schließlich gibt es besonders im Bereich der Technologieentwicklung neue Formen der Interpenetration von Universitäten mit industriellen Akteuren, die die Unabhängigkeit von Forschungsprozessen und damit die Voraussetzung intellektuellen „Engagements“ gefährden könnten.

Flüchten oder

Standhalten

Auf diesen objektiven und vielschichtigen Marginalisierungsvorgang gibt es zahlreiche Antworten, die sich schematisch um die Alternative „Flüchten oder Standhalten“ gruppieren lassen. Eine prominente Flucht -Option besteht in dem Übergang von der „Verabschiedung“ des Proletariats (A.Gorz) zur feierlichen „Bestattung“ des Linksintellektuellen, wie sie exemplarisch Jean-Francois Lyotard zelebriert hat. Dieser zweite Abschied ist insofern rational, als er die Donquichotterie vieler Intellektueller aufs Korn nimmt, die sich mit ihrem Engagement vor Fabrik und Kasernentoren blamiert haben. Der traditonelle Linksintellektuelle bezieht sich auf den „Menschen“, das „Volk“ oder das „Proletariat“ wie auch ein entrücktes Ding -an-sich, das zum Gegenstand von Projektionen gemacht wird, welche einerseits zum Engagement anreizen, andererseits aber gerade im Augenblick des Engagements zerplatzen. Die Tragik des Intelletuellen liegt darin, daß er sich mehr und mehr für Subjekte engagiert, deren Bild erst im Innern des Wissenschaftssystems fabriziert wird (die phantasmatischen „Neuen Sozialen Bewegungen“ sind hierfür das beste Beispiel). Insofern ist Lyotards Vorschlag, den imaginären „Adressaten“ des Intellektuellen verschwinden zu lassen, nachvollziehbar. Er ist metakritisch gemeint und soll dazu dienen, eine neue Reflexionsschleife in den Intellektuellen -Diskurs einzubauen. Was soll der Intellektuelle folglich tun? Die sibyllinische Antwort Lyotards: “...eine 'Botschaft‘ in die Wüste schleudern.“

Diese Selbstkritik ist allerdings halbherzig, weil sie nur die Adressaten-Illusion entlarvt, aber nicht auf die intellektuelle Praxis selbst durchschlägt. Die zuletzt zitierte Formulierung Lyotards legt sogar den Schluß nahe, daß er am Propheten-Image des Intellektuellen festhalten möchte. Die Postmodernen desartikulieren den Zusammenhang von Kritik und Engagement, indem sie eine positive Beziehung von Kritikfähigkeit und Rückzug aus der Politik behaupten. Diese Rückzugs-Variante ist fest verankert im modernen Intellektuellen-Diskurs und wird versinnbildlicht durch den Elfenbeinturm, von dessen hoher Warte aus die Gesellschaft zugleich erkennbar und erträglich zu sein verspricht. „From the high Tower of Thougt we can look out at the World“, formulierte bereits Oscar Wilde, der den intellektualistischen Geist der „disinterested curiosity“ mustergültig ausgearbeitet hat. In den Dialogen Wildes findet sich auch das Bild vom einsamen Rufer in der Wüste, das Lyotard aufgefrischt hat: „Nur durch die Stimme desjenigen, der in der Wildnis ruft, werden die Wege der Götter bereitet.“

Wilde, die älteren Vertreter der Frankfurter Schule und Lyotard sind exemplarisch für ein Kritikmodell, in dem Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und direktes politisches Engagement als Gegensätze behandelt werden. Für alle drei ließe sich zugeich zeigen, daß der Rückzug mit einer Verklärung der eigenen Kaste einhergeht. Die Rückzugs -Variante des Intellektuellen-Diskurses funktionert immer so, daß man kontrafaktisch die eigene Widerspenstigkeit und Asozialität suggeriert und auf diese Weise „Kritik“ zu verkörpern und zu monopolisieren beansprucht.

Eine andere Fluchtreaktion auf die Marginalisierung der metropolitanen Intellektuellenschichten besteht in einer hochherzigen Flucht nach vorn, wie sie beispielsweise Hauke Brunkhorst in seinen jüngsten Beiträgen zum Intellektuellen-Problem vorgeführt hat. Brunkhorst besteht auf der unlöslichen Verbindung von Kritik und Engagement. Aus dem Umstand, daß das „revolutionäre Subjekt“ unkenntlich geworden ist und als Referenzpunkt des Engagements ausfällt, zieht er den optimistischen Schluß, daß gerade dadurch eine posttraditionale „Öffentlichkeit“ entstanden sei, die die Wirkungschancen des Intellektuellen multipliziere. Brunkhorst vermittelt der linksakademischen Kollegenschar das beruhigende Bild, daß die Welt wenigstens in dieser Hinsicht noch in Ordnung sei: Hier treten die Intellektuellen noch mit „Appellen“ den aufnahmebereiten „Massen“ gegenüber, lösen „avantgardistische Choks“ aus und weisen den zahlreichen „Gegenintellektuellen“ nach, daß es sie eigentlich in unserer hochmodernen Gesellschaft gar nicht mehr geben kann. Im Unterschied zu den Postmodernen, die ihr Selbstbild leicht „tragisch“ akzentuieren, liegt hier eine aktivistische Variante der Selbstmystifizierung vor, die ungewollt komische Effekte erzielt.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß die Postmodernen den Intellektuellen-Diskurs entweder prophetisch (Lyotard) oder mönchisch (Umberto Eco) ausrichten, während Habermas und Brunkhorst auf der „institutionalisierten Rolle“ (Habermas) des Intellektuellen beharren und insofern eher ein Priestermodell des intellektuellen Engagements favorisieren. Darauf verweist insbesondere bei Brunkhorst die Einheit von Kommunikationspathos und Exkommunikationsgesten, mit denen ein beliebig erweiterbarer Kreis von „Gegenintellektuellen“, „Jungkonservativen“ und „Postmodernen“ bedacht wird.

Die beiden genannten Formen der Selbstmystifizierung des Intellektuellen sind unmittelbar an eine Kritikideologie gekoppelt, d.h. an einen Typus der nicht-reflexiven Kritik, der nichts weiß von seinen eigenen sozialen Voraussetzungen und Wirkungen. Als Alternative bietet sich der Versuch einer soziologischen Selbstentzauberung der Intellektuellen an, der ihre faktische Marginalität unpathetisch zur Kenntnis nimmt und in eine Neudefinition der Rolle der Intellektuellen münden könnte. An dieser Stelle empfielt es sich zunächst, in den Traditionen zu stöbern.

Sankt Max und

Sankt Marx

Max Weber läßt sich stilisieren als ein Kritiker des Propheten-Modells der intellektuellen Aktivität („Kathederprophetie“), während Marx und Gramsci das Priester -Modell des Intellektuellen kritisiert haben. Webers Kritik des Prohetenmodells führt bekanntlich zur Aopologie der „Wertfreiheit“, die unter anderem den Nachteil hat, daß sie eben nicht nur den Amtsmißbrauch von Lehr- und Forschungsstellen zu Propagandazwecken diskreditiert, sondern auch umgekehrt - was oft übersehen wird - das „Hineinreden der Öffentlichkeit“ (Weber) in den Arkanbereich der Erkenntnisproduktion unterbinden soll.

Marx denunziert etwas anderes, nämlich den gleichsam inquisitorischen Kritikbegriff der Junghegelianer, denen er vorwirft, die Gesellschaft so lange auf die Folter der Kritik spannen zu wollen, bis sie ihnen nachspreche („Hier ist die Wahrheit, knie nieder!“). Er entwickelt stattdessen eine Kritikstrategie, die darauf abzielt, unterdrückten sozialen Kräften zur Sprache zu verhelfen. Was immer der Intellektuelle sagt, er verhilft damit auch anderen, nicht intellektuellen Kräften zur Selbstartikulation. Da Marx die soziale Arbeitsteilung kritisiert, die zur Zementierung von Wissens- und Kritikmonopolen führt, scheint er wie kein anderer eine Selbstthematisierung von Intellektuellen in strikt säkularen Begriffen eingeleitet zu haben. Und doch ist gerade Marx immer wieder ein Propheten-Modell des Intellektuellen nachgesagt worden. Julius Carlebach hat diese vielfach antisemitisch gefärbten Versuche kritisiert, den Marxismus in die Tradition des alttestamentarischen Prophetentums zu stellen. Aber auch er kommt in seinem 1978 erschienen Buch Karl Marx and the Radical Critique of Judaism zu dem Ergebnis, daß Marx die Propheten als Revolutionäre begriff, mit denen er sich verwandt fühlte.

Marx‘ Grundidee, daß die Konflikte zwischen Intellektuellen nur im Kontext globaler sozialer Kämpfe zu verstehen sind, in denen die Intellektuellen immer schon Partei sind, wird von Gramsci weiterentwickelt. Sein Ausgangssatz: „Alle Menschen sind Intellektuelle (...); aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen“.

Indem Gramsci die Intellektuellen völlig unabhängig von formalen Verbandszugehörigkeiten als Funktionäre des Überbaus bestimmt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Entzauberung der Intellektuellenrolle. Trotzdem ist sein Begriff des „organischen Intellektuellen“ unbefriedigend. Gramsci säkularisiert zwar das Intellektuellenbild, gelangt aber nicht zu einer vollständig entzauberten Betrachtung der „Partei“ und der „Klasse“, von denen ausgehend der Intellektuelle nunmehr definiert wird. Daraus ergibt sich eine partielle Rückverzauberung oder Re-Mystifizierung der Intellektuellenrolle.

Gravierender ist jedoch, daß Gramsci aus der Beobachtung, daß auch der vermeintlich „freischwebende“ Intellektuelle in einem bestimmten Sinne „Partei“ ist, den Schluß zieht, man dürfe den Unterschied zwischen formeller und informeller Parteigebundenheit vernachlässigen. Der „erweiterte“ Intellektuellenbegriff wird mit einer politischen folgenreichen Ausblendung der Binnendifferenzen erkauft, die zwischen „Funktionären“ im engen Sinne und solchen Intellektuellen besteht, die nur in einem analytischen Sinne „Funktionäre“ sind, insofern sie nämlich ein regelmäßiges Gehalt beziehen, von Forschungsgeldern und Verlagen abhängig sind usw. Aus der Tatsache, daß jedes Wissen politisch ist, kann nicht geschlossen werden, daß der Intellektuelle ein Politiker ist, der die Spielregeln des politischen Machterwerbs auf seinen Praxisbereich überträgt. „Selbst die abgedroschenste Wahrheit kann nicht oft genug wiederholt werden, bis sie für alle Menschen zur Regel wird, die ihr Handeln stimuliert“, schreibt Gramsci 1917 - unter völliger Vernachlässigung der Unterschiede, die zwischen der Organisation einer taylorisierten Autofabrik, einer Universität und einer politischen Partei bestehen. Man konnte Gramsci daher mit gewissem Recht vorwerfen, daß er für die „Tragikomödie“ des abwechselnd philo-totalitären und „kritischen“ westeuropäischen Linksintellektuellen das Drehbuch geschrieben habe (Vittorio Strada) - eine Tragikomödie, deren letzter Akt inzwischen wohl zu Ende ist.

Homunculus

academicus

Der Intellektuellen-Diskurs enthält also eine Reihe von Identifikationsangeboten, die allesamt unbefriedigend sind. Weder der engagierte Intellektuelle noch der disengagierte Bewohner des Elfenbeinturms scheinen der Gegenwart gewachsen zu sein, und dasselbe gilt für den „organischen Intellektuellen“, dessen imaginärer Referenzpunkt entweder der schlafende Riese des Proletariats (die linksradikale Variante) oder der wachsame Riese einer totalitären Partei (die orthodoxe Variante) war.

Festhalten möchte ich Gramscis egalitäre Formel, daß alle Menschen Intellektuelle sind, eine Formel, die von anderen inzwischen auch auf die Figur des Künstlers ausgedehnt worden ist. Habermas hat diese Formel durch sein Konzept der rationalisierten Lebenswelten in eine andere Theoriesprache übersetzt und in seinem älteren Legitimationskrisen-Theorem krisentheoretisch zugespitzt. Ein nächster Schritt könnte darin bestehen, Gramscis Prämisse umzukehren und nicht mehr den Intellektualismus der NormalbürgerInnen, sondern umgekehrt die soziale Normalität der Intellektuellen in den Mittelpunkt zu rücken.

Der Reiz einer Soziologie der Intellektuellenschichten, wie sie von Weber begonnen und in jüngerer Zeit von Pierre Bourdieu weitergetrieben worden ist, liegt in dem Versprechen auf Selbstentzauberung, auf einen Prozeß der reflexiven Aufklärung über Aufklärer. Wenn es so ist, wie Habermas versichert, daß es mittlerweile eine „institutionalisierte Rolle des Intellektuellen“ gibt, dann wird es höchste Zeit, daß wir Distanz gewinnen zu diesem Rollenklischee. Einer, der eine solche Selbstdistanzierung durchgeführt hat, beschreibt die damit entstehende Sichtweise wie folgt:

„Ursprünglich verkörperten moderne Künstler und Intellektuelle Nonkonformismus, ihre Introversion radikalisierte sich zur Subversion, ihr Widerstand gegen die Gesellschaft aktivierte sich zum Protest. In der demokratischen Kultur der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Haltung gefördert, weil sie sich zum Idealbild der Meinungsfreiheit aller stilisieren ließ. Heute sind die künstlerischen und intellektuellen Nonkonformisten Führungspersönlichkeiten der Kultur, offiziell betraut mit der Selbstdarstellung ihrer Unabhängigkeit (...). Sie plakatieren die chronischen Bedenken, die die gebildete Wohlstandsgesellschaft insgesamt an ihren eigenen Lebensvoraussetzungen hegt. Diese besteht jetzt darauf, von einer allgemeinen Gesellschaftskritik in Frage gestellt zu werden. Sie verlangt zu ihrer Entlastung eine kathartische Kultur, die unablässig darstellt, daß die konsequent gesteigerte Produktion Kriegsgefahr, Umweltzerstörung, Verarmung anderer Länder oder Entfremdung der Individuen nach sich zieht“ (Otto Werckmeister, Zitadellenkultur).

Ebenso wie die engagierte „Außenseite“ des Intellektuellen entzaubert zu werden verdient, muß die „Innenseite“, die eigentliche professionalisierte Tätigkeit insbesondere der sozialwissenschaftlichen Intellektuellen betrachtet werden. Hier ist zunächst rückblickend festzustellen, daß die berechtigte Kritik eines bestimmten kritischen Intellektuellen-Diskurses am „Akademismus“, am universitären Fachidiotentum etc. einen perversen Effekt hervorgerufen hat, nämlich die Legitimation der Suche nach „mondänen Erfolgen“, wie sich Bourdieu ausdrückt. Die eigentliche Forschungstätigkeit wird in jenem Diskurs ähnlich behandelt wie bei Habermas die „Privatsphäre“ oder bei Weber das „Alltägliche“, nämlich als eine Art vorausgesetzter Sockel, auf dem der Intellektuelle steht, damit man ihn umso besser sieht. Durch diese Haltung sich selbst gegenüber trägt der Linksintellektuelle erheblich zur allgemeinen „Zurückgebliebenheit der Sozialwissenschaften“ (Bourdieu) im Vergleich zu anderen Wissenschaften bei.

Diese Haltung ist besonders deswegen alarmierend, weil die eingangs erwähnten objektiven Marginalisierungstendenzen dazu führen, daß die Intellektuellen verlorengegangenes Prestige mehr und mehr im feuilletonistischen Grenzland zwischen Politik und Wissenschaft zurückzuerobern versuchen. Solche Distinktionsstrategien würden, zu Ende gedacht, eine Verkleinbürgerlichung des Wissenschaftsbetriebs bewirken.

Rubbelmassage

der Dauerkritik

Der engagierte Intellektuelle unterstellt, daß das „System“ permanent an „Legitimationsdefiziten“ leide - eine Standardvokabel der kritischen Politologie. Tatsächlich wirft jedoch diese Fehldiagnose ein Licht auf die Ärzte, die sie ausstellen und auf die spezifischen Defizite des dominanten Intellektuellen-Diskurses. Es ist wahrscheinlich, daß die Überschätzung der realpolitischen Tragweite von moralisch inspirierten Legitimationszweifeln damit verknüpft ist, daß bestimmte Intellektuelle sowohl ihre „Adressaten“, besonders die ominösen neuen Mittelklassen, als auch sich selbst überschätzen. - Warum? Weil zumindest die organisatorisch nicht gebundenen, „disorganischen“ Intellektuellen Teil ihrer eigenen Mittelklassen-Zielgruppe sind und in hohem Maße affiziert sind von der Selbstvernarrtheit und der Unfähigkeit dieser Klasse, über ihre eigenen Grenzen hinauszublicken (vgl. Barbara Ehrenreich, „Die ausgeblendete Mehrheit“, taz vom 25.1.1990).

Für eine Selbstentzauberungsstrategie innerhalb des Intellektuellen-Diskurses ist die Einsicht zentral, daß auch „kritische“ Diskurse über Gesellschaft und Staat nicht dem Gesetz der Ökonomisierung entgehen, durch die sie zu einem sozialen „Redegenre“ neben anderen werden. Jedes Redegenre, so hat Alex Demirovic im Anschluß an Foucault formuliert, „verknappt“ das Feld möglicher Äußerungen und bildet zugleich einen Bezugspunkt, „der Reden sinnvoll, wünschenswert oder sogar zwingend erscheinen läßt“. Die Verknappungsstrategie des kritischen Legitimationsdiskurses läßt sich sowohl an den Objekten, den Mitteln als auch den Sprecherpositionen dieses Diskurses ablesen. Zur Kritik freigegeben werden vor allem „politische Ordnungen“ (Habermas), also die sogenannte hohe Politik, während der gesamte Bereich dessen, der von Foucault bis Ulrich Beck als „Subpolitik“ thematisiert worden ist, also Geschlechterverhältnisse, Technologien, Medien, Polizei etc., nicht Teil des eigentlichen Kritikfeldes ist. Mit der Designation bestimmter Kritikgegenstände werden zugleich politische Ideale verknappt. Bekanntlich schwankt der Legitimationsdiskurs zwischen der (nur eingeschränkt gültigen) These, daß sich der Staat tatsächlich legitimieren müsse und der Forderung, daß er sich legitimieren können solle. Als normative Leitidee wird ein Staat suggeriert, der dadurch legitim ist, daß er seine Politik in öffentlichen Foren und nach nicht-verfügbaren Maßstäben erfolgreich legitimieren kann. Dieses Ideal schließt bestimmte Aspekte aus, die in einer radikaleren Demokratiekonzeption Platz hätten, insbesondere die Entwicklung von Strukturen, durch die auch die materiellen Lebensumstände der Individuen zu einem Element des demokratischen Prozesses würden, anstatt ihm bloß vorausgesetzt zu sein.

Weiterhin verknappt der Legitimationsdiskurs neben den Gegenständen auch die Techniken der Kritik, erstens, indem überspitzt formuliert - der elaborierte Code von Hochschulabsolventen zum Indiz für Kritikfähigkeit gemacht wird und zweitens, indem die Kritik an politischen Entwicklungen in einem nicht näher spezifizierten Sinne „moralisch“ ausgerichtet sein soll. Die jeweils verknappten Kritikgegenstände und Kritiktechniken hängen natürlich miteinander zusammen.

Die starke Legitimationshypothese geht noch davon aus, daß zentrale und sozial folgenreiche Veränderungen sowohl innerhalb des politischen Systemsstattfinden als auch von ihm ausgehen. Beides läßt sich - für die nähere Zukunft und den Bereich der OECD-Länder - bezweifeln. Die Antriebsstrategien der Gesellschaftsveränderung wandern mehr und mehr in ein subpolitisches System von wissenschaftlichen, ökonomischen und technologischen Entscheidungsprozessen ab (Beck), und zugleich sind es subpolitische Bereiche, bis hin zu den somatischen Grundlagen des Soziallebens, die von diesen Veränderungen primär betroffen sind.

Schließlich privilegiert der politisch-moralische Legitimationsdiskurs einen bestimmten Kritikertypus. Ingenieure, Naturwissenschaftler oder auch sozialwissenschaftliche Spezialisten sind nicht nur keine typischen Träger von Legitimationszweifeln, sie sind selbst Zielgruppen von Moralisierungsbemühungen. Das „Engagement“ bestätigt die institutionelle Sphärentrennung von Wissenschaft und Gesellschaft, indem es sie nur überspringt und äußerliche Moralkriterien an die Wissenschaftsentwicklung anlegt. Der engagierte Intellektuelle ist instiutionell konservativ, weil er das Wissen selbst und die Formen seiner Erarbeitung unangetastet läßt. Die klassische Kritik Foucaults lautet folgerichtig, daß der „universelle Intellektuelle“ die Politik auf ein äußeres Anhängsel des Wissens reduziere, während der „spezifische Intellektuelle“ die Trennung von Politik und Wissen unterlaufe und das Wissen selbst als eine politische Größe betrachte.

Eine kuriose Situation: Während den sozialwissenschaftlichen Intellektuellen vorgeworfen wird, sie strebten mehr und mehr nach sozialen Fernwirkungen und „mondänen Erfolgen“, werfen diese den Ingenieuren vor, daß sie die ökologischen und sozialen Fernwirkungen ihres technischen Handelns außer Acht ließen. Wahrscheinlich sind beide Angriffe „legitim“. Die Informatiker und Gentechnologen sollten die entfernteren Auswirkungen ihrer Praxis stärker als bisher berücksichtigen. Umgekehrt wäre es für die Stärkung eines „laizistischen“ Selbstverständnisses von Intellektuellen fruchtbar, wenn diese denNahbereich ihrer professionellen Tätigkeit aufwerten würden.

Ein Schritt in diese Richtung wäre es, wenn sich die Intellektuellen nicht mehr nur polar auf eine „Gesellschaft“ bezögen, der sie ein Stachel im Fleisch zu sein hoffen, während in Wirklichkeit die Gesellschaft unter der Rubbelmassage ihrer moralischen Dauerkritik aufblüht. Es wäre ratsam, mit dem hartnäckigen, narzißtisch -masochistischen Selbstklischee zu brechen, das suggeriert, die „Gesellschaft“ sei gegen uns. Bereits Oscar Wilde bezog sein Selbstbewußtsein und seinen emphatischen Kritikbegriff aus der Illusion, daß die „schönen und nutzlosen Erregungen, die die Kunst in uns auslöst“, der „Gesellschaft“ verhaßt seien, daß diese zwar dem „Kriminellen“, nie jedoch dem „Träumer“ verzeihe, etc. Der (post-)moderne Intellektuelle - ein Findelkind der schönen Lorelay: „Ich selbst muß drin verderben / das Herz tut mir so weh / Vor Schmerzen möcht‘ ich sterben / Wenn ich mein Bildnis seh‘ „.

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