piwik no script img

Oberster Sowjet entscheidet über das Tempo der Wirtschaftsreform

■ Noch versucht Gorbatschow einen Kompromiß zwischen der Regierung Ryschkow und den Reformern zu finden / Interregionale Gruppe will Souveränität der Republiken stärken

Moskau (adn/taz) — Ein ganzes Bündel neuer Wirtschaftsgesetze soll auf der gestern morgen begonnenen Sitzung des Obersten Sowjet der Sowjetunion in den nächsten Tagen verabschiedet werden. Angesichts großer Versorgungsschwierigkeiten und des sinkenden Lebensniveaus soll der Weg zu einer Wirtschaftsreform freigemacht werden, die nach Meinung aller sowjetischen PolitikerInnen und Experten überfällig ist. Das alte Kommandosystem ist schon zusammengebrochen, eine neue, am Markt orientierte Wirtschaftsordnung jedoch nicht einmal in Ansätzen entwickelt. Angesichts des teilweisen Zusammenbruchs der Brotversorgung in den großen Städten stehen die Abgeordneten unter einem ungeheuren Zeitdruck. Doch gehen weiterhin die Meinungen über die Art und das Tempo der Wirtschaftsreform weit auseinander.

Auf der einen Seite steht die Regierung Ryschkow, die vor einem zu schnellen Übergang in die Marktwirtschaft warnt und angesichts der zu erwartenden Arbeitslosigkeit eine behutsame Reform befürwortet. Auf der anderen Seite steht die von Gorbatschow und Jelzin eingesetzte Expertengruppe unter dem Ökonomen und Akademiemitglied Stanislaw Schatalin, der so rasch wie möglich die sowjetische Wirtschaft in eine Marktwirtschaft umwandeln und auch den Wünschen der Republiken entgegenkommen will.

In einer ungewohnt emotionalen Eröffnungsrede versuchte der Parlamentspräsident Anatolij Lukjanow gestern vormittag die Abgeordneten auf die Position der Regierung Ryschkow einzuschwören. Er forderte sie auf, die Autorität der Macht nicht zu untergraben. Darüber hinaus kündigte er die Tagung des Kongresses der Volksdeputierten — des höchsten Legislativorgans der UdSSR — für Dezember an.

Doch ist keineswegs mehr sicher, ob die Regierung Ryschkow noch so lange im Amt bleiben wird. Denn nicht nur die Russische Regierung, auch die populären Bürgermeister von Moskau und Leningrad, Gawriil Popow und Anatolij Sobtschak, bescheinigten dem Ryschkow-Kabinett Handlungsunfähigkeit. Die interregionale Deputiertengruppe hat schon Außenminister Schewardnadse als Nachfolger in die Diskussion gebracht. Sie forderte außerdem, zuerst über einen neuen Unionsvertrag und dann erst über die Wirtschaftsreform zu diskutieren, weil die Reformen in den Republiken durchgeführt werden müßten.

Präsident Michail Gorbatschow scheint aber nach wie vor nicht bereit, den Technokraten Ryschkow fallenzulassen, was ihm von Seiten Jelzins den Vorwurf der Unentschlossenheit einbrachte. Gorbatschow hofft Kompromisse zwischen dem Programm der Regierung und dem der Reformer zu finden. Er will heute seine diesbezüglichen Vorschläge im Parlament vorbringen. Für Jelzin ist dieser Kompromiß aber nicht mehr annehmbar, befaßt sich doch der Oberste Sowjet der Russischen Föderativen Republik bereits mit einem alternativen Wirtschaftsprogramm und den dazu notwendigen Gesetzen, die ab 1. Oktober in Kraft treten sollen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen