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Säbelträume unterm Dach

■ »Jelisaweta Bam« im Kulturhaus im Ernst-Thälmann-Park

Jelisaweta Bam will weglaufen, kann aber nicht. Um aus dem Fenster zu springen, liegt ihre Wohnung zu hoch, und vor der Tür stehen Pjotr Nikolajewitsch und Iwan Iwanowitsch, die gekommen sind, sie zu verhaften.

Da macht sie es anders und läßt die beiden zu sich hinein. Und kaum sind sie drinnen, beginnt sie mit ihnen zu spielen. Weil ihre Verfolger aber partout nicht vergessen wollen, wozu sie eigentlich hergekommen sind, muß Jelisaweta ihre ganze Pfiffigkeit aufbieten, um nicht verhaftet zu werden. Sie bringt die zwei dazu, viele lustige Kunststückchen vorzuführen, und holt ihre Eltern, damit die auch zuschauen können. Sie entwischt ihren Verfolgern, um mit ihnen Verstecken zu spielen, und erfindet seltsame Spiele für sie, die plötzlich lebendig werden und alle in ihren Sog ziehen. Die Spielregeln verändern sich ganz von selbst, die fünf verstricken sich ausgelassen immer tiefer hinein und wissen nur noch dunkel, wer sie sind und was sie wollen. Alle sind fröhlich, aber »das Unglück kommt immer dann, wenn man es nicht erwartet«. Iwan Iwanowitsch erinnert sich ganz genau daran, gesehen zu haben, wie Jelisaweta Bam Pjotr Nikolajewitsch mit dem Säbel massakriert hat. Sie soll an einer Kiefer aufgehängt werden, die »so hoch ist, daß es alle Tiere im Wald sehen«. Um sie zu retten, läßt sich ihr Vater auf einen Zweikampf mit dem mächtigen und unbesiegbaren Pjotr Nikolajewitsch ein, den er gewinnt, weil dieser sich mit seinem Säbel versehentlich selbst ermordet. Dafür beschuldigt Jelisawetas Mutter sie nun, ihren Sohn »abgemurkst« zu haben. Und da ist das Spiel auch schon aus. Jelisawetas Verfolger trommeln wieder wie anfangs gegen die Tür, verschaffen sich Eintritt und nehmen sie fest — wegen Mordes an Pjotr Nikolajewitsch.

Das Stück Jelisaweta Bam von Daniil Charms, 1928 in Leningrad uraufgeführt, hat das »Theater unterm Dach« des Kulturhauses im Ernst- Thälmann-Park in einer Koproduktion mit der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst neu erarbeitet. Die rhythmische Dynamik der Sprache des Stücks ist zwar in der Übersetzung verlorengegangen. Einen Ausgleich schafft dafür die Regisseurin Wera Herzberg jedoch durch den Einsatz rhythmischer und dynamischer Mittel. Anke Fleutes, Tobias Lehmann, Stefan Koloska, Ina Köhler und Marc Pohl spielen in dem Stück in einem Balanceakt zwischen Festlegung und Improvisation, ohne dabei abzustürzen. Auch wenn's manchmal gefährlich wackelt. Ein paarmal ist die Aufführung nahe daran zu zerfasern, und der Versuch, die Schwachstellen ins Spiel hineinzunehmen, sie ironisch zu betonen und zu verdoppeln, bringt sie natürlich nicht zum Verschwinden. Trotzdem macht es Spaß, dabei zuzusehen. Gerade beim Improvisieren, beim Aus- der-Rolle-Fallen laufen die Schauspieler manchmal zu Hochform auf. In die Rollen lassen sie sich weniger fallen, die Anstrengung, das Arbeiten wird sichtbar. Sie arbeiten gut.

Das Theater unterm Dach, eine der wichtigsten Spielstätten für freie Gruppen in Ost-Berlin, wurde bislang vom Bezirk Prenzlauer Berg finanziert und steht nun wie andere kommunale Kultureinrichtungen vor einer völlig ungewissen Zukunft. Es reagiert auf diese Situation, indem es Produktionen verschiedener freier Gruppen jeweils drei bis vier Tage lang en suite spielt. So kann es ein Theaterprogramm anbieten, das es an Abwechslungsreichtum und Qualität mit dem Programm eines guten Off- Kinos aufnehmen kann. Anselm Bühling

Jelisaweta Bam heute abend um 20 Uhr im Theater unterm Dach, Kulturhaus im Ernst-Thälmann- Park; Dimitroffstraße 101; Berlin 1055. Weitere Termine siehe Tagesprogramm.

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