: Absturz in die Halluzination
■ Das Brandungstheater wagt kopfüber den »Kanalsprung«
Zuerst wollte das Brandungstheater nach seinen zwei Produktionen Die Reise nach Timbuktu und Casa Blanca oder Der Film Stanislaw Lems Erfolgsroman Der Futurologische Kongreß in Szene setzen. Der Senat gab auch Geld für das Projekt, allein, letztes Jahr »mochte der Autor der freien Bearbeitung seines Romans nicht zustimmen« (Programmheft). Aus der Formulierung klingt noch die Enttäuschung über den Entzug des Stoffes heraus. Das führte allerdings nicht dazu, daß das Brandungstheater die ganze Angelegenheit fallenließ; statt dessen wurde die Enttäuschung zur Aufgabe, die hieß: mit einer ähnlichen Thematik und einem ähnlichen Handlungsstrang die aktuellen Fragen an das Leben und die Welt im allgemeinen an der Kante zum dritten Jahrtausend für sich und das Publikum neu zu formulieren. So entstand Kanalsprung, welches für ein Ensemblemitglied immerhin »eine Möglichkeit ist, am Ende des auslaufenden Jahrtausends Theater zu machen«; klappern gehört auch hier zum Handwerk.
Die Fragen, in die hinein das Brandungstheater spielt, drehen sich wie so oft auf duster ausgeschlagenen Off-Bühnen um das Thema, woher man komme, wohin des Weges, was des Seins Grund und was der persönliche Anlaß, es weiter zu betreiben — Fragen also, die üblicherweise mit dem geschickten Anpflanzen von Apfelbäumen beantwortet werden. Und formuliert wird in diesen schwarzen, rollkragenpulloverernsten Wortverbindungen mit exitentialistischer Geste: »Bin ich tot?« Und dann antwortet ein Mitschauspieler mit lebenskrisenschwerer Stimme: »Spielt das eine Rolle?« Solche Fragen haben zwar in den Zeiten unauffindbar verschwindender Identitäten durchaus ihre Berechtigung, die Pose aber gerät meistens zum grotesken Schaulauf der Gründe, die ein Ich bestätigen sollen und meistens in die unfreiwillige Komik abrutschen.
Auch das Brandungstheater stellt diese Fragen, und es stellt sie genau so: Doch hier sind die Figuren grotesk und nicht die Frage, die sich hinter den lächerlichen Personen um so bitterer stellt. Vier Menschen begeben sich in einer zukünftigen Welt auf die Reise: ein Professor der Naturwissenschaften, ein Chirurg, eine Journalistin, die angeführt werden sollen von einem Reiseleiter namens Gaffrail. Das Ziel ist Ciudad Trujillo — eine Stadt, die es zwar heute noch gibt, die man aber vergeblich auf der Landkarte suchen wird. Denn die Stadt heißt heute Santo Domingo de Guzmain, ist die Hauptstadt der Dominikanischen Republik und trug den Namen Ciudad Trujillo nur während der Herrschaftszeit des Diktators mit gleichem Namen Trujillo de Molino — eines Mannes blutigster Massaker und beträchtlichsten Größenwahns. Soweit die Stadt Ciudad Trujillo einen historischen Ort markiert, ist sie im Stück deren in die Zukunft verlängerte Fiktion, die die Aura aus Unterdrückung und Größenwahn mit sich nimmt. Denn in der Stadt angekommen, bemerken die vier Reisenden, daß sie die einzigen Gäste des Novotels sind, das doch überfüllt sein müßte von anderen Teilnehmern des großen Kongresses zur Rettung der Erde, dem eigentlichen Anlaß der Reise.
Grund der menschenleeren Räume: Auf den Straßen der Stadt tobt der Aufstand, zuerst nur mühsam bekämpft von der Regierung, dann ausgehebelt durch die Verwendung halluzinogener Gase und Stoffe, die in das Trinkwasser eingeleitet werden. Das Problem dieser Stoffe: Irgendwann weiß niemand mehr, wo sie wirken und wen sie beeinflussen; Luft holen und trinken müssen alle.
Ab diesem Punkt werden die Personen des Stücks zu Möglichkeiten, denn die Grenzen fallen: die der Zeit, des Ortes wie die der Masken und Panzerungen des einzelnen. Alles zu sein ist möglich, und niemand weiß, welche Möglichkeit die reale ist. Bis herunter zur Ratte in der Kanalisation geht das Spektrum, aus deren Rolle heraus nur die verzweifelte Anstrengung führt, sich eines besonderen Anlasses zu erinnern, der den sonst schweifenden biographischen Daten einen Zusammenhalt gibt, wenn man will: einen Sinn oder doch wenigstens einen Grund, es noch einmal mit dem Leben aufzunehmen. Ob noch ein Gespräch mit der Mama geführt werden muß oder die schon erledigt geglaubte Geliebte im halluzinativen Tanz der Möglichkeiten aufscheint als wahrste Botschaft eines nun aber richtigen Lebens: alle finden falsche Gründe, mit denen sie sich zur lebensstiftenden Ordnung zurückrufen, alle Gründe sind lächerlich, und nur einer muß weiter auf der Stelle hüpfen, weil ihm nichts einfällt: Gaffrail, der Reiseleiter, der zur Strafe weiterhüpfen muß bis an sein Lebensende, würde ihn nicht aus Gnade der Engel der Erkenntnis mit dem Maschinengewehr der Freiheit umlegen und in einen neuen Körper befördern.
Auferstanden aus Halluzinogenen und hineingeworfen in eine neue Welt, so beginnt im zweiten und letzten Teil des Abends das neue Leben des Reiseleiters. Wo zuvor die Säulen gerade standen und die Rollos die einzelnen Räume und Körper gegeneinander abschirmten, liegt nun alles in Schutt, und aus den Bruchstellen der Gebäudereste scheint jenes Fluidum entwichen zu sein, das die Träume zum wachen Leben macht: Der Professor ist ein Narr mit Kriegsbemalung, der die Journalistin zum Tango treibt, der Chirurg spielt das Akkordeon, und der Engel der Erkenntnis tanzt mit ihm dazu. Das Bein guckt aus dem Schlitz am Rock hervor, und der Mediziner hält seine Hand darauf. Und alle Reden sind ein einziger, großer Konditionalsatz: Es könnte sein, würde möglich und hätte einen Sinn. Doch will Gaffrail sie greifen, den Moment festhalten, flüchten sie seiner, und er ist belämmerter als zuvor, und keine Sonne geht am Himmel auf.
Das Brandungstheater spielt die Thematik vom Identitätsverlust, von der Unmöglichkeit, etwas zu sein im Leben, ohne sich zu markieren als Held, bis an den Rand des Wahns: eine Position, von der aus immer noch die besten Beschreibungen des allgemein Verrückten gemacht werden können. Von dort aus werden keine Personen, keine eindeutig festgelegten Figuren mit dem Weg durchs Leben stabilisiert, sondern wandelnde Fragezeichen, die sich etwas vorstellen können, was bisher noch nicht eingetreten ist. Dieser Blick öffnet den Raum und macht einen Horizont auf, an dem Sterne hängen statt Biographien und in dem der einzelne zum Pirat seiner Lebensgeschichte wird: auftauchen, kapern und ganz schnell wieder verschwinden. Schließlich gibt es keine Träume, denen wir noch Leben schulden, dafür aber ein Leben, das noch viel Spaß haben will. Volker Heise
Kanalsprung bis zum 30.9. im Theater am Ufer. Mi. bis So. um 20 Uhr 30, Tempelhofer Ufer 10, Berlin 61.
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