Biermann: „Die lachen doch nur über uns“

■ Ostberliner Stasi-Archiv von 22 Bürgerrechtlern seit einer Woche besetzt/ Wolf Biermann jetzt auch offizieller Besetzer

In dem Pförtnerhäuschen riecht es nach Weihnachten. In dem „Ein- Mann“-Häuschen aus Glas und Aluminium vor dem grauen Stahltor, hinter dem sich das ehemalige Zentrum der Staatssicherheit verbirgt, gehen die Kerzenlichter nicht aus — immer wieder bringen Leute neue Kerzen hierher, um sie ehrfürchtig anzuzünden.

Mein Vater hat in Bautzen gesessen

Für diesen Zweck hat sich eine 60jährige Frau aus dem Westberliner Stadtteil Steglitz extra von ihrem Mann nach Berlin-Lichtenberg fahren lassen. „Mein Vater hat in Bautzen gesessen“, sagt sie. Jetzt will sie für die beten, „die damals wirklich ihren Mund aufgemacht haben“. Wie die 21 Besetzer der Normannenstraße fordert auch sie, daß die Stasi-Akten in die Hoheit der künftigen DDR- Länder unterstellt werden und „nur ganz verläßliche Leute“ die Denunziantendaten aufarbeiten dürfen. Mit ihrem weißen, runden Hut, an dem schwarz-graue Vogelfedern geheftet sind, paßt sie nicht so recht zwischen die jungen Leute von der Mahnwache, die mit ihren langen Haaren, dunkelbraunen Parkas und schwarzen Lederjacken in die Opposition zur Mode gegangen sind.

Hinter dem grauen Stahltor parken zwei leere Pritschenlaster der Volkspolizei. Vier Polizisten kontrollieren den Fußgänger-Eingang — eine undankbare Aufgabe. Denn die Hälfte des Lichtenberger Häuserblocks gehört inzwischen der Deutschen Reichsbahn und die hat ein Haus als Ladenpassage untervermietet. Wer zu „Edeka“, ins SB-Restaurant oder in die Sauna „mit Riesenbadewanne“ möchte, darf die uniformierte Sperre passieren und ist somit den Bürgerrechtlern, die seit Dienstag letzter Woche mehrere Räume im Haus 7 besetzt halten, ein unerlaubtes Stückchen näher. Am Montag Nachmittag ist in der Ladenpassage, schräg gegenüber von dem Gebäude, in dem Stasi-Minister Mielke herrschte und in dem jetzt eine Gedenkstätte für Geheimdienstopfer eingerichtet werden soll, wirklich nichts los.

Zwei Häuser neben Mielkes Bau halten die 21 Menschenrechtsvertreter hinter einer grauen schmutzigen Fassade fünf Büros in ihrem Besitz. Der Eingang zu ihnen ist in einem zwanzig Meter Radius mit Polizeigittern abgeriegelt. In der Pförtnerloge haben sich drei Polizisten einen Schwarweiß-Fernseher aufgebaut und verfolgen an diesem Nachmittag apathisch einen Spielfilm. Zu den Besetzern lassen sie niemanden durch. Aus einem ihrer Fenster im dritten Stock haben die Mitglieder des Neuen Forums, der Vereinigten Linken, der Umweltbibliothek und die „mündigen Bürger“ ein Transparent herausgehängt. Vollgeregnet fordert es die „Zerschlagung der Stasi-Struktur — Gegen neue Geheimdienste — Keinen Polizeistaat“.

Ein Gegenstück zu Schnitzler

Draußen — vor dem Stahltor in der Ruschestraße — drängeln sich etwa 20 Mitglieder der Mahnwache mit Neugierigen unter einer Plane, die die Symphtisanten an dem Tor festgeschnürt haben. Es regnet. Ein Rentner erkennt einen Unterstützer wieder: „Du bist ja auch ein eiserner Bursche, schläfst überhaupt nicht.“ Ein vierzigjähriger Handwerker hat sechs Exemplare der Zeitung 'Hilferufe von drüben‘ mitgebracht. Doch das Druckwerk fällt bei der Mahnwache durch: „Das ist sowas vom ZDF- Magazin, ein Gegenstück zu Schnitzler.“ Der Mann im blauen Jeansanzug zischelt in die Menge: „Zurück, zurück“ und sammelt die Zeitungen hastig ein.

Hier wird die Menschheit gerettet

Gegen viertel nach fünf Uhr — jeden Tag um 17 Uhr findet in der Ruschestraße ein Kundgebung statt — haben sich über hundert Leute vor dem Zelt der Mahnwache versammelt. Inzwischen scheint die Sonne. Ihre September-Strahlen spiegeln sich mächtig in einem Teil der über 600 geriffelten Fensterscheiben, hinter denen noch vor einem Jahr Stasi-Leute gearbeitet hatten. Der Liedermacher Wolf Biermann kommt hinter dem grauen Stahltor hervorgeschlurft — seit fünf Tagen hat er sich zu den Bürgerrechtlern, wie Bärbel Bohley und Ingrid Köppe, gesellt. Seine braunen Holzbotten passen nicht zu seinem blau- grünen Trainingsanzug. Der Atem aus seinem Mund riecht müde. Aber er will weiter besetzen. „Hier wird ja die Menschheit gerettet“, rechtfertigt er seinen Einsatz gegenüber der taz. Dem französischen Fernsehen erklärt der Hamburger mit drei-Tage-Bart, daß er seine Akte nicht haben wolle, weil er keine Zeit habe, „die alte Stasi-Scheiße zu lesen“. Aber auf keinen Fall dürfe das Archiv vernichtet werden. Alleine die Verurteilten in den Gefängnissen, die nie Dokumente über ihre Strafe erhalten hätten, seien auf die Akten aus der Normannenstraße angewiesen. „Damit sie nicht wie Dummköpfe dastehen“, wenn sie beweisen müßten, daß sie eine Strafe abgesessen haben.

Für Biermann, dessen Schnauzbart bereits grau wird, ist der 38jährige DDR-Innenminister Diestel „ein Komiker“. Daß der Minister letzte Woche erklärte, er werde seine Wände mit Stasi-Akten tapezieren, wenn man ihm dies befehle, kommentierte der Liedermacher als „Diestel- Hagersches Tapetensyndrom“. Hager, damals Ideologiechef des Politbüros, hatte Anfang '89 zu Gorbatschows Perestroika erklärt, wenn der Nachbar tapeziere, „müssen wir das nicht auch gleich tun“. Den Rentnern, Ehepaaren und Jugendlichen, die sich eng um den Polittexter ohne Gitarre scharen, berichtet der Mann im Trainingsanzug auch von einem Gespräch mit Diestel vor zwei Monaten. „Wissen Sie, Herr Biermann, die wirklich wichtigen Akten sind alle weg“, habe der Innenminister zugeben. Die Machthaber von gestern, vermutet Biermann, würden heute Mercedes fahren und dem Volk zuwinken — „die lachen doch nur über uns“. Dirk Wildt