: Da waren's nur noch ...
■ Die Austreibung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler an der Humboldt-Universität
Die Guten ins Ämterkröpfchen, die Schlechten ins Stempeltöpfchen, so sollte es sein. Während Mathematiker wertfrei weiterlehren, hatten sich die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler an der Humboldt-Universität als besonders ideologisch belastet der Gesinnungsprüfung zu unterziehen. Die Marxisten säubern sich selbst — in die Leerstellen dringen demokratische Aufbauhelfer zur Aus- und Weiterbildung ideologischer Kader — und der westdeutsche Professorenstau wird abgebaut.
Sie sind jetzt Nummer 25. Alle kommen, um noch einmal so ein ML-Fossil zu besichtigen. Neulich war ein japanisches Fernsehteam da, gestern eine kanadische Rundfunkgesellschaft ...« Eckhart Lassow ist als Direktor der ehemaligen Marxismus-Leninismus-Sektion und in dieser Eigenschaft nur noch für ihre Auflösung und Weitervermittlung von Mitarbeitern zuständig, eines der letzten Relikte eines Bereichs, dessen praktische Aufgabe, nämlich die Studenten mit einem Denksystem zu versorgen, einfach entfiel, als das Denksystem fiel. Ein aufgeblähter Dienstleistungsbereich mußte auf seine Wissenschaftstauglichkeit überprüft werden, und im Gegensatz zu den ML-Sektionen in anderen Städten gab sich die Humboldt-Uni für keinen Etikettenschwindel her. Daß allerdings am Ende nur so wenige noch in der Wissenschaft arbeiten würden, hätte auch Lassow nicht gedacht und sieht den Vorgang zwischen »ein bißchen resigniert und ein bißchen belustigt, vielleicht auch mit Verständnis, da das nun mal zu dem Gang der Dinge gehört«. Eine Reihe von Umdenkprozessen sei ja nun wirklich schon lange nötig gewesen, allerdings auch mit Zeit verbunden. Und »die gegenwärtige Problematik besteht darin, daß es die Zeit so eindeutig nicht gibt«.
Linientreue Wendehälse
Der Anfang vom Ende der Sektion Marxismus-Leninismus (ML) an der Humboldt-Universität beginnt mit einer Flut von Konzepten. In dem Maße, in dem die Wende auch die Realität derer bestimmte, die sie, so ein hausinterner Kritiker, nie zur Kenntnis nehmen wollten, brach fieberhafte Aktivität aus. Da schlugen die einen vor, einen Lehrstuhl für »Nationalität und politische Kultur« einzurichten, weil dies dem »internationalen Standard politikwissenschaftlicher Forschung und ihrer Institutionalisierung« entspräche. Andere hielten es spätestens jetzt für angebracht, »die Modifizierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses unter dem Einfluß des Kapitals und der Gesetze der Kapitalverwertung« den Medizinstudenten nahezubringen. Eine ganz besonders linientreue Professorin schrieb auf einmal den »modernen Sozialismus in seiner Pluralität« herbei und beklagte »die bisherige Ignoranz, die sich m.E. als ein wesentliches Hemmnis für die auch subjektiv notwendige Überwindung von bürokratischen, diktatorischen und stalinistischen Gesellschaftsmodellen erwiesen hat«. Hinter all den Positionswechseln stand die nackte Angst. Denn seit dem Herbst war klar, daß die ehemalige ML-Sektion, zuständig für die politische und gesellschaftswissenschaftliche Pflichtbelehrung von Studenten aller Fachgebiete, in der bisherigen Form nicht überleben konnte.
Im April löste sich auf Initiative der Fakultät die Sektion auf. Erst hoffte man, fachkompetente Mitarbeiter im Rahmen eines geisteswissenschaftlichen Studium generale weiterbeschäftigen zu können, dann beschied man sich mit der Gründung eines Instituts für Politikwissenschaft (IfP) mit einem radikal dezimierten Personalbestand. Von 260 auf 50 — da hatte das Konzept über die Entfremdung des Gesundheitswesens wenig Chancen.
Qualvolle Auslese
Aber nicht alle MLer waren besinnungslose Wiederkäuer der Staatsdoktrin. Als »Kaderschmiede« galten eher die Fachschulen, an die Humboldt-Universität hatte man in den letzten Jahren dagegen verstärkt Wissenschaftler anderer Sektionen, vor allem Philosophen, geholt, um das Niveau der ML-Sektion aufzubessern. Nicht nur deshalb gestaltete sich die Auslese der Wiederbewerber schwierig. Die Sektion beauftragte eine neue Leitung, »in einer wissenschaftlich vertretbaren Weise herauszufinden, was nun mit den Kollegen werden könnte. Denn man konnte ja nun beim besten Willen nicht erwarten, daß die Kollegen sich selbst auflösen«, stellt Dieter Klein, Direktor des mit dem IfP verwandten Instituts für Zivilisationsforschung (IfZ), fest. »Nun begann ein ganz qualvoller Prozeß. Denn wenn man einer Institution selbst auferlegt, diese Entscheidung zu treffen, dann muß das zwangsläufig zu härtesten, auch persönlichen Auseinandersetzungen führen.«
Also wurde die Aufgabe einer unabhängigen Kommission übertragen, in der neben Klein die Leiter fast aller ehemaligen Wissenschaftsbereiche, Gewerkschaftssprecher, Vertreter des Runden Tisches und des Westberliner OSI saßen, mit dem man inzwischen über Qualifizierungskurse in regem Kontakt stand. Rund siebzig Bewerber kamen in die engere Wahl, da waren schon einige ausgeschieden: »Was in den Vorruhestand konnte, ist im Vorruhestand. Etwa zwölf sind an Fachsektionen untergekommen, von denen sie einst zur Verstärkung geholt worden waren. einige befinden sich in Umschulungsmaßnahmen. Durch Aufhebungsverträge sind welche im Versicherungswesen, als Vertreter für medizinische Artikel oder als Lehrer untergekommen. Ein geringer Teil ist im Verwaltungswesen, der Rest ist arbeitslos«, weiß der Direktor des Instituts für Politikwissenschaft, Heinz Niemann. Der Rest, das sind nach Aussagen des Sektionsdirektors Eckart Lassow rund zwanzig Prozent. Hinter diesen Zahlen stehen durchaus tragische Lebensgeschichten, so etwa die von Lassows Vorgänger, der nach sechs Wochen Vietnamreise zurückkam und mit einem Herzinfarkt in Rente ging. Vormalige Vordenker sollen in der Kantine aufgetischt haben — aber davon will Niemann nichts wissen. MLer seien allenfalls für ein bis zwei Wochen eingesetzt worden, als im Februar die Versorgung zusammenzubrechen drohte.
Der Druck des 3. Oktober
Während das Auslesegremium versuchte zu entscheiden anhand sachlicher Kriterien — »wer hat vor Studenten sich in den möglichen Bandbreiten geäußert, wer hat versucht, in Publikationen den möglichen Spielraum auszuschreiten« (Klein) —, war ihm die Verfügungsgewalt über den Stellenplan längst entglitten. Am 31. Mai war zwar das Institut für Politikwissenschaft formal gegründet worden, doch in den Koordinierungsgesprächen mit dem OSI und mit Wissenschaftssenatorin Riedmüller-Seel schrumpften weitere zwanzig Wissenschaftler weg. Nach langen Beratungen kam man — »stark vermittelt durch die Frau Senatorin« (Klein) — zum Schluß, das IfP zusammen mit dem IfZ und dem Institut für Friedens- und Konfliktforschung zu einer Fakultät Sozialwissenschaften zusammenzulegen, damit es nicht, so die Argumentation von Riedmüller- Seel, als vermeintliche Paralleleinrichtung zum OSI einer Streichung anheimfiele. Dabei platzt, so OSI- Professor Zeuner, das OSI »aus allen Nähten« und könnte ein zweites gut gebrauchen. Im Mai ist man auch in der FU darüber noch einig: In einer Dringlichkeitsvorlage des Präsidenten an den Akademischen Senat der FU wird dafür plädiert, »daß große überlastete Fächer und Studiengänge durch Ausbau anderer Stellen in der Region Berlin, insbesondere an der HUB, entlastet [...] werden sollten«, weshalb sogar angestrebt wird, daß »universitäre Forschungspotentiale und Studienangebote in der Hochschulregion Berlin nebeneinander und miteinander konkurrierend existieren«. Fast vier Monate später liest sich das in der Senatsverwaltung so: »Er [der Studiengang Politikwissenschaften] sollte nicht in Konkurrenz zum Otto-Suhr-Institut der Freien Universität institutionalisiert werden — auch aus finanziellen Gründen.« Formal ist zwar noch der DDR-Bildungsminister Meyer zuständig — aber Riedmüller-Seel bzw. der Bundesbildungsminister haben ab 3. Oktober mindestens die monetäre Gewalt. Professor Klein nimmt das als Mitglied der gesamtdeutschen Kurrikulumskommission gelassen: »Wir neigen dazu zu sagen, das ist eine akzeptable Position, wenn nicht dahintersteckt, Politikwissenschaft völlig zu liquidieren. Daß Frau Riedmüller- Seel sich gegen eine voreilige Neugründung politikwissenschaftlicher Studiengänge ausspricht, heißt ja nicht, daß sie hier überhaupt keine Politikwissenschaftler mehr sehen will. Sonst würde sie auch nicht Westberliner Kollegen als Gäste fördern.«
Strategie der Vielfalt
Fragt sich nur, welche Politikwissenschaftler noch zu sehen sind. Denn von den rund dreißig Planstellen des IfP soll allenfalls ein Drittel noch von MLern besetzt werden — der Rest wird von Westberliner und westdeutschen Dozenten eingenommen werden. Eine »Durchmischung des Lehrkörpers« ist nicht nur prinzipiell sinnvoll im Rahmen eines wissenschaftlichen Austausches, sie liegt überdies voll auf Linie des Wissenschaftsrats. Das Beratungsgremium von Bund und Ländern hält in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften einen »grundlegenden Neubau für erforderlich, weil die bestehenden Studiengänge einseitig auf die marxistisch- leninistische Staatslehre und die staatsmonopolistische Zentralverwaltungswirtschaft ausgerichtet waren«. In den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern fehle es »an der notwendigen Vielfalt und damit an einer wichtigen Bedingung wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit«. Wie diese Vielfalt dann konkret aussieht, läßt sich aus dem schon zum großen Teil verwirklichten Neuaufbau der Wirtschaftswissenschaften schließen. Hier, in der »roten« Volkswirtschaft, werden die Vorlesungen des Grundstudiums ausnahmslos von westdeutschen Professoren gehalten; daß wenigstens die Seminare von ostdeutschen Dozenten und Professoren gehalten werden, mußte erkämpft werden. An Professoren, die bereits Vorlesungen spruchreif vorbereitet hatten, wurde appelliert, im Interesse des westlichen Überangebots von eigenen Lehrangeboten zurückzutreten. Dabei hatten die Ökonomen ursprünglich die westliche Hilfe begrüßt und sogar selbst einen Intensivkurs initiiert. Doch jetzt fühlt man sich in die Rolle des Tutors gedrängt, die alternative Marktwirtschaftsvorlesung entfällt im Pluralismus, eine »Analyse des Scheiterns des Sozialismus«, von einem Marxisten vorgetragen, ist nicht gefragt; eine »Geschichte von Sozialismus und Kapital« liegt nicht im neuen Trend.
Kurse in Politikgestaltung
Zur Trümmerarbeit berufen scheinen sich dagegen Kollegen andersartiger Interessengebiete zu fühlen. OSI- Professor Fritz Vilmar, Fachmann, was die Geschichte der SPD seit der Wirtschaftskrise betrifft, hat die vormalige ML-Sektion ein Sommersemester lang betreut. Vilmar, der zeitgleich einen Kurs »Der organisierte Interesseneinfluß auf institutionalisierte Politikgestaltung« am OSI anbot, fragt in einer Antwort auf Presseäußerungen seines Bochumer Kollegen Bleek »im Interesse des mühseligen wissenschaftlichen Neubeginns«, was denn daran verächtlich sei, daß »diese Institute zu ihrer fortschreitenden Integration dringend Beratung brauchen und suchen — nicht zuletzt bei der Wissenschaftssenatorin und im OSI«. Zu den »namhaften Leuten, die sich am Aufbau beteiligen«, zählt auch sein Institutskollege Ralf Rytlewski, der im nächsten Semester erst mal als Gast lehren wird. Am Institut geht man von der festen Verplanung des Lehrstuhls für politische Kultur aus, im Bildungsministerium wird eine Vorzusage bestritten, denn die würde ja »dem demokratischen Verständnis« der Hochschule widersprechen. Doch auch so wäre eine Professur nicht abwegig, war doch Rytlewski als Mittelsmann zwischen OSI, Humboldt- Universität und seiner ehemaligen Studienkollegin Riedmüller emsig tätig, engagierte sich in den gemeinsamen Beratungskommissionen und begutachtete schon mal die Assistenten seines Fachgebietes auf recht ungewöhnliche Art. Zu einem näheren Kennenlernen wurden »zwei Kollegen und ich ans OSI bestellt«, erinnert sich Ex-MLer Klaus Labsch. »Im Laufe des Gesprächs fragte Rytlewski, welches Fachgebiet wir denn studiert hätten. Philosophie, sagten wir. Politikwissenschaft konnten wir ja schlecht studiert haben. Da hat er seinen Kopf bedeutungsvoll hin und her gewiegt und gemeint, nichts gegen die Philosophie! — aber für die Politikwissenschaft, das könne ja einen schweren Zugang geben ...«
Eine Runde aussetzen
Mit dem Argument der pauschalen politischen Belastung und dem Anspruch auf Erneuerung, mit dem auch innerhalb der Humboldt-Universität im Interesse der Imagepolierung Druck ausgeübt wird, werden die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler von vorneherein in die Defensive getrieben. Haben sie aber erst mal ausgesetzt, sinkt die Möglichkeit zur Qualifizierung und ihre Konkurrenzfähigkeit noch weiter. Der Nachweis bestehender Qualifikationen ist ohnehin schwer genug. Professoren der ehemaligen ML-Sektion — im Gegensatz zu den Professoren aller übrigen Fachbereiche nach einem Ministerratsbeschluß vom 25. Mai sämtlich abberufen — haben sich teilweise wieder beworben und müssen jetzt plötzlich eine Disziplin nachweisen, für die sie nur bestimmte Voraussetzungen, aber keine jahrelange Forschungspraxis vorzeigen können, zumal ihr Schwerpunkt ganz woanders lag. »Sich bewerben nach internationalen Kriterien heißt sich auf der Grundlage von Gutachten bewerben, die man erst erhalten kann, wenn man nachweisen kann, daß man in der Lage ist, diese Richtung einzuschlagen«, beschreibt Lassow das Dilemma. »Und was nutzt mir das, wenn mir zig international ausgewiesene Wissenschaftler von der Akademie der Wissenschaften in Moskau bestätigen, na ja, der hat versucht, in seiner Arbeit den Perestroika-Gedanken aufzunehmen; was nutzt mir das, das sind keine Gutachter aus Birmingham.« Von den fünf Lehrstühlen des IfP werden allenfalls »ein bis zwei« (Niemann), »vielleicht auch keiner« (Lassow) mit einer Hausberufung besetzt. Denn nach den Protesten gegen die Berufungslisten der Humboldt- Universität werden die Karten ganz oben, im Ministerium, gemischt, aber geben tut wieder Riedmüller- Seel. »Wir haben unsere Vorschläge eingereicht, jetzt warten wir«, meint der Sekretär der Statutenkommission, Dr. Werner, und vermutet schon, »daß Frau Riedmüller überhaupt gegen Berufungen ist angesichts der Tatsache Geld«.
Westdeutsche Stellenmisere
Wenn auch nicht alle der Aufbauhelfer auf eine Bleibe spekulieren, käme eine Tabula rasa der DDR-Hochschullandschaft westdeutschen Gelüsten nicht ungelegen, als »Dispositionsmasse für akademische Karrieren«, wie DDR-Bildungsminister Meyer bereits erkannte. Was da vermeintlich als politische Moral daherkommt, ist unter Umständen nur Besitzstandswahrung: ökonomische und ideologische. »Traurig und makaber« findet Lassow die Idee von den fliegenden Fakultäten, »wo dann welche rumreisen und das machen, was angeblich hier niemand kann«. In das vermeintliche Vakuum stoßen die westdeutschen Professorenanwärter, die bisher aufgrund einer großzügigen Berufungspolitik der siebziger Jahre auf den Sankt-Nimmerleins- Tag vertröstet waren, »hochqualifizierte habilitierte Nachwuchswissenschaftler, die alle Voraussetzungen für eine Professur erfüllen und lediglich wegen der gegenwärtigen Stellensituation noch nicht berufen worden sind«, schreibt der Wissenschaftsrat in seinen »Empfehlungen«. So muß auch die Solidarität der Medien mit einem Protestschreiben von Mitarbeitern der Humboldt-Universität, in dem diese sich gegen eine humboldtuniversitätsinterne Berufungsliste, die »Beförderung von Günstlingen«, wandten, im nachhinein befremden. Während in dem Schreiben namentlich die Berufung Rudolf Bahros »und einiger anderer« von dieser Einschätzung ausgenommen wurde, wurde gerade Bahro, neben dem PDS-Aktivisten Michael Brie, in der Presse als Beispiel für alte Seilschaften zitiert.
Konkurrenzkampf im Innern
Der spontane Protest ging auf die Ängste von Assistenten zurück, die befürchteten, bei einer vermeintlich oder tatsächlich an alten Strukturen orientierten Berufungspolitik langfristig auf der Strecke zu bleiben. Um so dankbarer griff die 'FAZ‘ die Anregung für eine Kampagne auf: »Weiter auf antikapitalistischem Weg«. In der Polemik gegen die Gesellschaftswissenschaftler an der Humboldt- Universität wurden zwar Andre und Michael Brie miteinander verwechselt — sind ja beides PDS-Brüder —; war wurde einmal der Mitarbeiter des IfZ Dieter Segert in die Leipziger SED-Bezirksleitung gesteckt, ein andermal Kollege Niemann: allein, die Plakettierung mit SED- und PDS- Mitgliedschaft oder auch nur die Überzeugung, eine »Theorie des dritten Wegs« zu vertreten, muß zur Konstruktion alter Seilschaften reichen, die ein neues Berufsverbot zumindest nahelegen. »Man muß weg von der Diskussion um ML«, meint Eckart Lassow. »Daß das natürlich die erste Ebene war, auf der solche Entscheidungen gefällt werden mußten, und daß da natürlich einiges vielleicht überstürzt und ein bißchen grobschlächtig vorgeht, das werde ich auch noch begreifen. Aber es geht natürlich um die Geisteswissenschaften überhaupt und um den Wissenschaftsbetrieb. Es läuft ja darauf hinaus, überhaupt alle Leute erst mal rauszunehmen mit dem Argument, 85 Prozent der Leute waren SED. Ich kenne ausgewiesene Mediziner, die Mitglied der SED waren, bei denen das absurd wäre zu denken, sie hätten ihre Professur nur bekommen, weil sie in der Partei waren. Der ganze gesellschaftswissenschaftliche Bereich ist von dem Problem nicht ausgenommen: die Wirtschaftswissenschaften, die Filmgeschichte, die Soziologie ... Jahrelang wurde in diesem Land verhindert, daß hier keine eigene Soziologie entsteht, weil man Angst hatte, da könnte ja was rauskommen, an Zahlen. Dann wurde endlich durchgesetzt, daß Soziologie gemacht werden konnte. Aber natürlich war klar, daß das nur möglich war, wenn das hieß: marxistische Soziologie. Ja, nun gibt es das nicht mehr. Wenn die Gesellschaft Kreuz hat, wird sie sich das leisten müssen. Aber als Hauptanliegen sicher nicht. Und jetzt aus diesem Widerspruch heraus alles aussortieren, wenn das zum Gesichtspunkt politischer Entscheidungen gemacht wird, dann ist es bedenklich, dann sind das Dinge, die wir schon mal gehabt haben.«
Sollte die Wissenschaftssenatorin ihre neuesten Pläne zu einer »Mantelgesetzgebung«, in der die dreijährige Übergangszeit zum Berliner Hochschulgesetz durch die sofortige Übernahme desselben ersetzt wird, tatsächlich durchsetzen können, so wäre ihr ein exemplarischer Coup gelungen. Nicht nur, daß mit dem Inkrafttreten des Gesetzes der Magisenat im Zuge einer Rechtsverordnung »ermächtigt« (Originalformulierung) würde, »vom Pförtner bis zum Rektor einen jeden Hochschulangehörigen zu ersetzen«, so interpretiert der Sekretär der Statutenkommission, Dr. Werner, wo man doch bisher gutgläubig an Übergangsregelungen gebastelt hatte. Während mit einem Schlag alle Dozenten, außerordentlichen Professoren, Oberassistenten und Assistenten der Fristenregelung von vier bis sechs Jahren anheimfielen, blieben nur die — ungetesteten — Professoren auf Lebenszeit ungeschoren: »Es ist schon der böse Ausdruck des Ermächtigungsgesetzes gefallen ...« Dorothee Hackenberg
Kurse in Politikgestaltung
Zur Trümmerarbeit berufen scheinen sich dagegen Kollegen andersartiger Interessengebiete zu fühlen. OSI- Professor Fritz Vilmar, unter anderem Fachmann, was die Geschichte der SPD seit der Wirtschaftskrise betrifft, hat die vormalige ML-Sektion ein Sommersemester lang betreut. Vilmar, der zeitgleich einen Kurs »Der organisierte Interesseneinfluß auf institutionalisierte Politikgestaltung« am OSI anbot, fragt in einer Antwort auf Presseäußerungen seines Bochumer Kollegen Bleek »im Interesse des mühseligen wissenschaftlichen Neubeginns«, was denn daran verächtlich sei, daß »diese Institute zu ihrer fortschreitenden Integration dringend Beratung brauchen und suchen — nicht zuletzt bei der Wissenschaftssenatorin und im OSI«.
Bleek hatte nach fünf Wochen Lehrtätigkeit an der Humboldt-Uni kritisch Bilanz gezogen und einen »Schwung von Sozialwissenschaftlern« bemerkt, die »nur eine berufliche Aufbesserung oder Absicherung im Osten« gesucht hätten. Nach Vilmar, der im Rahmen von Strukturvorschlägen seit Ende letzten Jahres »einige Ideen« eingebracht hat, aber selbst nicht an Auswahlrunden teilnahm, waren die Helfer »mehrheitlich Leute, die es nicht nötig gehabt hätten, sich auf diesem Weg eine Stelle zu verschaffen«. Den ersten Weg der Kooperationsbereitschaft müsse man völlig unterscheiden von dem, was jetzt kommt, wenn die Stellen ausgeschrieben würden. Im Ausschreibungstext aber müsse in konstruktiver Weise die Frage nach der »Falsifizierbarkeit des Marxismus« als Forschungsanliegen eine Rolle spielen, nämlich inwieweit es auch in der Ideengeschichte totalitäre Elemente gebe. »Das ist auch ein Problem des OSI, denn da gab es Kollegen, die getan haben, als sei die Revolution um die Ecke.« Vilmar sieht sich ganz und gar nicht in einer Reihe mit »Menschen, die eine kapitalistische Heilslehre« verbreiten. Falsch wäre es aber auch, wenn man sagen würde, »die Kollegen bringen alle Voraussetzungen über Grundlagen parlamentarischer Demokratie mit«, während die aufgeklärten Marxisten ideengeschichtlich durchaus ein gründliches Vorwissen hätten. Vilmar kommt beim Erzählen über die Erfahrungen mit den Humboldt-Kollegen geradezu ins Schwärmen, so kooperativ und fruchtbar sei die Zusammenarbeit gewesen.
Zu den »namhaften Leuten, die sich am Aufbau beteiligen« (Vilmar), zählt auch sein Institutskollege Ralf Rytlewski, der im nächsten Semester erst mal als Gast lehren wird. Am Institut geht man von der festen Verplanung des Lehrstuhls für politische Kultur aus, im Bildungsministerium wird eine Vorzusage bestritten, denn die würde ja »dem demokratischen Verständnis« der Hochschule widersprechen. Doch auch so wäre eine Professur nicht abwegig, war doch Rytlewski als Mittelsmann zwischen OSI, Humboldt-Universität und seiner ehemaligen Studienkollegin Riedmüller emsig tätig, engagierte sich in den gemeinsamen Beratungskommissionen und begutachtete schon mal die Assistenten seines Fachgebietes auf recht ungewöhnliche Art. Zu einem näheren Kennenlernen wurden »zwei Kollegen und ich ans OSI bestellt«, erinnert sich Ex- MLer Klaus Labsch. »Im Laufe des Gesprächs fragte Rytlewski, welches Fachgebiet wir denn studiert hätten. Philosophie, sagten wir. Politikwissenschaft konnten wir ja schlecht studiert haben. Da hat er seinen Kopf bedeutungsvoll hin und her gewiegt und gemeint, nichts gegen die Philosophie! — aber für die Politikwissenschaft, das könne ja einen schweren Zugang geben ...«
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