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Treffpunkt im Unendlichen

Das „Sonoptikum“ in der Alten Oper Frankfurt, eine viertägige Simultanveranstaltung quer durch die Jahrhundertmusik  ■ Von Detlev Reinert

Einmal ist keinmal. Die moderne Konzertmusik dieses Jahrhunderts ist einmalig: in der rasanten Entwicklung der Tonsprache von Zwölftönigkeit bis zum Geräusch, aber leider auch in der Aufführungsdichte. Viele visionäre musikalische Entwürfe geraten nach der Uraufführung schnell in Vergessenheit und verschwinden von den Spielplänen. Im Opernbetrieb konnten sich nur Alban Bergs Lulu und Wozzeck, Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten und einige Werke von Hans Werner Henzes durchsetzen. Und sieht man von einigen Aushänge- und Vorzeige-Kompositionen ab, dann haben selbst Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, Béla Bartók oder Anton Webern im Konzertleben nicht den Stellenwert, den andere Klassiker der Moderne längst haben. Bilder von Picasso, Klee, Kandinsky oder Mondrian sind ein Vermögen wert und hängen mittlerweile selbst in jedem Zahnarzt-Wartezimmer. Die einstmals avantgardistische Modernität der bildenden Kunst und der Literatur ist längst klassisch. Die der Musik dieses Jahrhunderts nicht. Arnold Schönberg hat auch deshalb immer betont: „Meine Musik ist nicht modern, sie ist nur schlecht gespielt.“ Deshalb läßt man es auch meistens gleich ganz. Als zu schwer gilt die „Neue Musik“ — für Interpreten und Hörer. Allenfalls in Nischen zwischen Bach, Beethoven und Brahms fristet sie ein geduldetes Schattendasein.

Das Wagnis der anstrengenden Unterhaltung probte aber nun doch die Frankfurter Alte Oper an vier Tagen mit dem Sonoptikum, einer riesigen Simultanveranstaltung mit Konzerten, Theateraufführungen und Performances. Und was kaum einer im Vorfeld glauben wollte: Der Wunschtraum des Schweizer Dirigenten und Medienspezialisten Armin Brunner ging größtenteils in Erfüllung. In den besten Momenten gelang es der gigantomanischen Großveranstaltung wirklich, „das Extrakt unseres musikalischen Jahrhunderts herauszudestillieren“.

„Das große Tor“ zur Musik dieses Jahrhunderts war weniger das Konzert unter jenem Namen mit Mussorgskis Bilder einer Ausstellung und dem Violinkonzert von Isang Yun am ersten Abend, sondern der Sinfonische Höhenweg I mit der Jungen Deutschen Philharmonie unter Pierre Boulez. Der Komponist und Dirigent plädierte in einer kurzen Ansprache für den Blick in die Zukunft, auch wenn er mühevoller als die ewige Reproduktion des Vergangenen sei. Er sprach über Arbeit und Freude — in dieser Reihenfolge —, und Kenner wissen, was damit gemeint ist. Pierre Boulez verlangt von sich und anderen viel. Bestimmte Takte einer Partitur läßt er bis zu dreißigmal vom Orchester üben. In diese künstlerische Verantwortung lassen sich nur wenige nehmen — leider. Unbestritten ist Pierre Boulez als Dirigent heute das Beste, was der Musik dieses Jahrhunderts vom Impressionismus aufwärts passieren kann. Seine Interpretationen definieren sich am Gegenstand jeweils neu. Flirrend und flimmernd, fließend strukturiert schimmerten Claude Debussys Jeux; laut, schnell, schroff und voller kalkulierter Brüche glänzte eiskalt Olivier Messiaens Chronochromie. Sein eigenes Klavierwerk Notations hingegen, 1978 für Orchester bearbeitet, ist eine hingetupfte Nach-Werbernsche Serialismus-Suite, voller Zartsinn und kürzelhafter Feinheiten, die so gar nichts mit dem bruitistischen Donnergrollen der Ameriques von Edgar Varèse gemeinsam haben. Spannender und differenzierter interpretiert kann man sich diese Schlüsselwerke nicht vorstellen. Pierre Boulez und die Junge Deutsche Philharmonie bekamen Ovationen, wie sie für diese Musik völlig ungewöhnlich sind.

Von Karlheinz Stockhausen stammt der sinnige Satz, man müsse die Musikgeschichte diagonal durchstreifen, um sie verstehen zu können. „Quer-Durch“ hießen, wohl nicht zufällig, drei Kernveranstaltungen, die sich wichtiger Etappen der Epoche nach dem Motto verschrieben: „Wie klang die Welt am Tag XY“. Den 29.Mai 1913, den Aufführungstag von Strawinskys Sacre du Printemps, nahm „Quer-Durch I“ als Fixpunkt zur Spiegelung des damaligen Musik- und Zeitgeschehens. Zerlegt in drei Teile, wurde der Sacre Werken von Schönberg, Reger, Debussy und Richard Strauss gegenübergestellt, samt Tonbandeinblendungen von Popularmusik jener Zeit und präsentiert von Hanns Joachim Friedrichs. Man kann sich über den erkenntnistheoretischen Witz solcher Faktenhubereien sicher streiten, zumal, wenn sie wie bei „Quer-Durch II“ auch noch von — ausgerechnet — Ute Lemper vorgetragen werden. Diese abgelesenen Kommentartexte, vebrochen von Hans-Christian Schmidt, verwirren mehr, als daß sie pointiert über die Zeit aufklären: „Alles kommt zu allem mit einer nicht zu erklärenden Logik“, liest die Lemper brav vor. Na, wenn das so ist, denkt man und hört dann durch Nebelschleier: Um den 31.August 1928, das Datum der Uraufführung derDreigroschenoper von Brecht/Weill, schwamm Johnny Weißmüller Weltrekord, bevor er zum Tarzen deevolutionierte, Max Schmeling wurde Schwergewichts- Weltmeister, Stanley Kubrick wurde in das Drehbuch der Welt aufgenommen, und — ganz wichtig — Adolf Hitlers Lieblingssong war Ausgerechnet Bananen... Eins, zwei, drei, so geht es munter weiter, man staunt offenen Mundes und fühlt sich in einer Komödie Billy Wilders: Aber sitzenmachen! Auch Ute Lempers wohlerzogenen Schulmädchengesang zu Mackie Messer und dem Barbara- Song gilt es zu überwinden.

Ließ sie den Charme einer Volkshochschullehrerin hinter der Bühne, sprach die Musik in einer raffinierten Programmzusammenstellung für sich. Das Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken unter Leitung des deutschstämmigen amerikanischen Dirigenten und Komponisten Gunther Schuller spielte zwischen der Zeitgeschichte im Schnelldurchlauf die dionysische Kraft der Feste Romanne von Ottorino Resphigi gegen die apollonische Zartheit der Lyrischen Suite von Alban Berg aus, karikierte George Gershwins Rhapsodie in Blue durch Schostakowitschs Tea for Two-Jazz-Persiflage Tahiti-Trott und spielte mit Strawinskys Etude Nr.4 musikalischen Reaktionismus gegen die avancierteste Tonsprache der Zeit von Anton Weberns Sinfonie op.21 aus. Wortlos wurde hier Zeitgeschichte im Widerspiel verschiedener Ästhetiken erfahrbar und spürbar. Große Musik gewinnt ihren Sinn selten aus der Zeit, meist gegen sie. Darum ist sie in ihrer Abstraktheit auch immer zeitlos.

Unfreiwillig, aber um so treffender illustrierte dies Gustav Mahlers berühmt-berüchtigtes Adagietto aus der fünften Sinfonie, das zum geheimen Zentrum in „Quer-Durch III“ oder „Wie klang die Welt am 26.August 1969“ avancierte. An diesem Tag begann bekanntlich das Woodstock-Festival, diese bunt schillernde Seifenblase aus verklärter Hippie- Seligkeit und großen Festivals, bei denen Love, Peace und Unterstanding zum Dauerstreß wurden. MahlersAdagietto spielte 1969 in Viscontis Film Der Tod in Venedig eine zentrale Rolle, und diese schöne Musik, die hart am Rand des Kitschs sich bewegt, gewann dadurch eine rätselhafte, überzeitliche Popularität. Kaum sind die letzten Töne zur Stille verhallt, setzt Joe Cockers With a little help from my friends aus Woodstock an, gefolgt von Otto Schilys schnoddrig vorgelesener Märchenstunde zum Jahr der Rebellion. Ein „Haben wir das vergessen“ bildet den rhetorischen Faden, an dem sich die „Kugelgestalt der Zeit“ mühsam entlangrollt: die Mondlandung, Willy Brandt, Woodstock, Nixon — nein, nein, keine Angst, wir haben es nicht vergessen und machen uns auch gerne ein paar systemkritische Minuten, hören gerne etwas von „Kirchentagen und nonkonformistischen Kulturen“ und ertragen es auch gerade noch so, daß auf John Updikes Proklamation der freien Liebe in seinem Roman Ehepaare sofort die Rolling Stones mit Let's spend the night together flankierend nachgeschoben werden. Nichts als Wortgeräusch, Satzgeblubber und Begriffsgeklingel. Stille und Umkehr von Bernd Alois Zimmermann — wäre diese wundervolle Musik doch Programm geworden!

Nach Hans Werner Henzes — noch immer — großartigem Gebet für Schlagzeuger Ho Chi Minh mit Peter Sadlo als Solist wären spätestens alle Worte überflüssig geworden. Und daß noch immer nicht alles verloren ist, bewiesen die Reaktionen von Arvo Pärts Regressions Symphonie No.3. Kräftige Buhs quittierten die „neue Einfachheit“ dieser Musik, die aus der Isolation der modernen klassischen Musik ausbrechen will, auf Kosten fragwürdiger musikalischer Ergebnisse.

Zugleich setzte dieses Werk auch den zeitlichen Schlußpunkt beimSonoptikum. Von hier aus, vom Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, wurde der Rückblick auf die Jahrhundertmusik geworfen. Man mag bemängeln, was fehlte: die amerikanischen Minimalisten um Steve Reich, Terry Riley oder Phil Glass, die gesamte freie Improvisationsmusik aus dem Umfeld des emanzipatorischen Free Jazz, Pop-art-Performer wie Laurie Anderson, Geräusch- Rhythmiker wie Glenn Branca oder Rhys Chatham, die folkloristisch orientierte osteuropäische Avantgarde oder die Superierung der authentischen Musik in der Collage-Ästhetik von John Zorn. Dessen in New York kürzlich aufgeführtes Orchesterstück For your eyes only ist Wende- und Schnittpunkt einer ganzen komponierten Musiktradition. Von dort aus hätte sich genaugenommen eine Veranstaltung aufzurren sollen.

Aber Frankfurt ist nicht New York, das Sonoptikum kein New Music America Festival. Das ist auch gut so. In den Vereinigten Staaten wäre eine Veranstaltung wie das Sonoptikum eine Sensation, weil finanziell unmöglich. Das ist nicht zu vergessen. Das Sonoptikum verschlingt viel Erz, um Gold zu bekommen. Und einfach so kann sich niemand, bei Eintrittspreisen zwischen 20 und 35 Mark für jedes Konzert, eben mal die Musik dieses Jahrhunderts erkaufen. Aber die Verlockung ist groß: „Musik aus dunkler Zeit“, „Henze liebt Mozart“, „Das Lob der schlechten Musik“, „Die Gesprochene Musik“, „Die wahre Flaschenpost“ oder „Rückgriffe“ waren postmodernistisch formulierte Themen einzelner Konzerte.

Sicher, es gab auch Flops im Veranstaltungslabyrinth. L'histoire du soldat von Igor Strawinsky in der Inszenierung von Ruth Berghaus entglitt in (Pina-)Bausch und Bogen zu luftigen Leerstellen und einem tanztheatralischen Null-Sinn. Auch die dreimalige Aufführung von Erik Saties Vexations, also jenes Klavierwerks, das aus der 840maligen Wiederholung eines Motivs besteht, war allenfalls ein Gag für müde Schmunzler. Drei Pianisten wechselten sich drei Tage im Drei-Stunden-Takt in einer Plexiglaskabine ab. Damit auch der letzte merkte, worum es hier ging, nämlich um die „Desavouierung des Leistungsdenkens in der Musik“, trugen die Spieler Radfahrerhosen und tranken Iso-Star. Prost! Auch die sechs Menschen, die im kühlen Wind stundenlang auf hohen Podesten vor der Alten Oper stumm sitzend verschiedene Hörer-Typologien mimten, waren ziemlich humorig und damit überflüssig.

Trotz aller postmodernistisch, halbsinnig seicht umwehten Schwächen war das Sonoptikum wirklich ein musikalischer Höhenweg über ein Jahrhundert in ernster Musik. Spät, aber nicht zu spät, nahm sich endlich einmal eine große Veranstaltung der nahen Vergangenheit an und wagte zudem neue Präsentationsformen. Selbst wer hier die Werke der klassischen Moderne und der Neuen Musik zum zweiten Mal hörte, hat sie so zum ersten Mal gehört. Denn wer etwas zum zweiten Mal hört, der hört auch zum ersten Mal etwas zweimal.

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