: Die Weltbank entdeckt die Armen wieder
Vor der Herbsttagung in Washington: Die Organisation orientiert auf einen neuen Kompromiß zwischen kapitalistischem Wachstumskurs und sozialstaatlicher Intervention/ Tribut an die Abhängigkeiten von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltkrise/ Zukunft für einen „Grünen Fonds“? ■ Von Rainer Falk
Was der Chef-Ökonom der Weltbank, Stanley Fischer, meint, wenn er von der Notwendigkeit eines neuen „Entwicklungsparadigmas“ spricht, ist jetzt nachzulesen: Der Weltentwicklungsbericht 1990 propagiert eine Doppelstrategie zur Bekämpfung der Armut. Ihr erstes Element ist die Förderung arbeitsintensiven Wachstums durch Marktanreize, Infrastrukturmaßnahmen und technologische Innovationen, ihr zweites die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen für die Armen, vor allem durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung, Familienplanung und Grundbildung.
Die Bank votiert damit gegen eine Politik der bloßen Umverteilung ebenso wie gegen den orthodoxen Liberalismus der letzten zehn Jahre: „Ökonomisches Wachstum“, so heißt es in dem Bericht, „ist der Schlüsselfaktor bei der Reduzierung der Armut, die Grundlage für eine Steigerung der Einkommen. Die Investition in Humankapital ist gleichermaßen wesentlich, weil sie die Armen in die Lage versetzt, Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen, die sich in der Folge des Wachstums ergeben.“
Eine Milliarde Menschen auf der Welt sind heute arm, und arm ist nach Kriterien der Bank, wer im Jahr über ein Einkommen von weniger als 370 Dollar verfügt, pro Tag also nicht mehr zur Verfügung hat als rund einen Dollar. 30 Millionen Kinder in den Entwicklungsländern sterben Jahr für Jahr, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Die Zahl der Armen könne jedoch bis zum Ende des Jahrhunderts um 300 Millionen verringert werden, wenn die neue Strategie konsequent umgesetzt würde. Die Bilanz, die die Weltbank am Ende von drei „Entwicklungsdekaden“ zieht, verweist darauf, daß weder die rigorose Wachstumspolitik der 60er und 70er Jahre noch die Strukturanpassungspolitik in den 80er Jahren sonderlich erfolgreich war. Der Neuanlauf geht davon aus und belegt dies mit zahlreichen Beispielen, daß hohe Wachstumsraten allein das Los der Armen nicht verbessern können, sondern auf die Entwicklung arbeitsintensiver Industrien zielen müssen, in denen die Armen eine Rolle spielen könnten. Auch die Sozialpolitik müsse sich gezielt auf diese Gruppe ausrichten, wobei dies nicht notwendigerweise eine Erhöhung der Staatsausgaben oder eine Vernachlässigung der Finanzdisziplin nach sich ziehen müsse.
Das klingt nach nach einem Rückgriff auf Konzepte, die bereits zu Beginn der 70er Jahre die Weltbank-Politik bestimmten, die Strategie der Grundbedürfnisse oder der „Umverteilung mit Wachstum“ („Redistribution with Growth“). Nur meint die Bank, für einen Neuanlauf gebe es heute Voraussetzungen, um den Dilemmata, an denen dies in den 70er Jahren gescheitert ist, zu entfliehen. Die Abnahme der geopolitischen Spannungen schaffe eine einmalige Gelegenheit, Rüstungsausgaben zu Gunsten der Finanzierung internationaler Aufgaben zu kürzen. So könne eine zehnprozentige Kürzung der Verteidigungsausgaben der Nato zu einer Verdoppelung der internationalen Entwicklungshilfe führen.
Der neue Bericht kritisiert Geber und Nehmer gleichermaßen, erstere, weil ihre Hilfe in der Vergangenheit nicht nur quantitativ unzureichend, sondern ihr Motiv auch qualitativ weit davon entfernt war, die Reduzierung der Armut an die erste Stelle zu setzen. „Enorme Summen wurden für Dinge ausgegeben, die mit der Verringerung der Armut nichts zu tun hatten — Militärausgaben zum Beispiel und verschwenderische Kathedralen in der Wüste.“
Die wachsende Armut (in den Berichten zuvor war stets von 700 bis 800 Millionen Menschen, die in absoluter Armut leben, die Rede) hält die Weltbank zwar für „beschämend“, die Konzentration auf die Armutsbekämpfung entspringt jedoch keineswegs bloßer Mildtätigkeit. Sie spiegelt das wachsende Bewußtsein über die Zusammenhänge zwischen dem Los der Armen und zwei anderen globalen Problemen wider: dem ungebändigten Bevölkerungswachstum und der sich zuspitzenden Umweltkrise. Daß sie selbst Teil dieser Probleme ist, weist die Bank natürlich weit von sich. Die Strukturanpassungspolitik sei mit dem Übergang zu einem neuen Wachstumsmuster, in dessen Gefolge die Armut abnimmt, prinzipiell vereinbar. Nur „kurzfristig“, heißt es lapidar, „mögen einige Arme unter den Verlierern sein“, besonders in den Städten. Immerhin: „Kurzfristige Stabilisierung kann auch soziale Leistungen, Transfers und Sicherheitsnetze, die den Armen helfen, bedrohen.“
Längst hat sich die Weltbank jedoch auch diesen Problemen zugewandt. Während sie ihre Kreditvergabepolitik (auch unter Begrenzung des Engagements in der kurzfristigen Strukturanpassung) stärker an Projekten der Armutsbekämpfung orientieren will, fordert sie — in deutlich anderer Akzentsetzung als die Konservativen — zusätzliche Mittel für globale Umweltschutzaufgaben in der Dritten Welt. Für einen entsprechenden „Grünen Fonds“ (geplanter Gesamtumfang: 1,2 Miliarden Dollar) soll die Herbsttagung nun den Durchbruch bringen, nachdem im Frühjahr vor allem die USA geblockt hatten. Bei der Verwaltung des Fonds beansprucht die Bank die Federführung. Während sich das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) auf die Arbeit an Konventionen (Artenvielfalt, Regenwald, Treibgase) konzentrieren und das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) seine Erfahrungen bei der technischen Hilfe einbringen soll, hat die Weltbank kürzlich den Vorschlag gemacht, selbst die Projektformulierung, die Koordinierung der Hilfe, die Politikberatung und die Durchführung der entsprechenden Programme zu übernehmen.
Hier wie dort kalkulieren die Finanz- und Entwicklungstrategen in Washington jedoch mit Grunddaten für die ökonomische Entwicklung im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende, die zwar von einem ungebrochenen Vertrauen in die Dynamik des Systems zeugen, aber durch die Wirklichkeit erst noch bestätigt werden müssen: eine gleichbleibende Wachstumsrate der Industrieländer von drei Prozent (wie in den 80er Jahren), fallende Zinsraten und sogar steigende Rohstoffpreise. Wenn es anders kommt, wofür sich derzeit vor allem in den USA die Hinweise häufen, wäre den guten Vorsätzen das gleiche Schicksal beschieden wie schon einmal: Makulatur für den Papierkorb.
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