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Von der Psychedelik zur Cybernautik

■ Interview mit Timothy Leary

taz: Wie kommt man als Psychologe über Psychedelik zu Computern und Cyberspace?

Timothy Leary: Psychologie ist das Studium des Geistes, der Erweiterung des Bewußtseins, und das Verstehen, wie der Geist und das Gehirn arbeiten. Die Psychologie lehrt uns, wie wir ein besserer Operator unseres Gehirns werden. Deshalb gehört das Studium psychedelischer Drogen zur Psychologie, da wir annehmen, daß sie das Bewußtsein erweitern und die Kommunikation verbessern. Und Computer? Sie tun letztlich nichts anderes: sie verstärken den menschlichen Geist und verbessern Kommunikation. Sowohl in der Psychologie als auch bei psychedelischen Drogen und Computern geht es darum, das Individuum in die Lage zu versetzen, seinen/ihren Geist auf möglichst perfekte Art zu gebrauchen.

Die doch sehr cartoon-artigen virtuellen Realitäten, die hier zu besichtigen sind, scheinen den Geist eher zu töten als anzuregen?

Zuerst einmal: so etwas wie Virtuelle Realität gibt es nicht. Wir reden hier über elektronische Realitäten, die ein Individuum schafft und über Elektronen aussendet. Vor fünfzig Jahren wurde eine wunderbare Einrichtung entwickelt, die den Menschen erstmals erlaubte, elektronische Realitäten zu schaffen: das Telefon. Und neuerdings gibt es ein Gerät — 35 Millionen Leute in Amerika benutzen es —, das ebenfalls eine elektronische Realität schafft: der Nintendo-Computer. Er kostet ungefähr so viel wie ein paar Wanderschuhe, 100 Dollar. Der Nintendo hat zwei Schaltknöpfe, und zwei Individuen können in diesem Raum kommunizieren, sie können spielen, auch wenn der eine in Paris sitzt und der andere in Los Angeles.

Das ist das, was wir Tele-Screen nennen. Die virtuelle Realität, um die es auf dieser Konferenz geht, ist letztlich nichts anderes, nur daß der Schirm direkt vor den Augen plaziert ist und Dreidimensionalität ermöglicht. Das eigentliche Ziel bei dieser Sache ist für mich, dem Individuum die Werkzeuge zur Schaffung elektronischer Realität in die Hand zu geben, um uns zu schützen vor der elektronischen TV-Gewalt der Staaten, der Konzerne, der Religionen. Der Durchschnittsamerikaner sieht sieben Stunden am Tag fern, sieben Stunden am Tag sind ihre Augen an diese Lügen und Fabrikationen geheftet, eine komplette Fake-Realität. Wir müssen die elektronische Macht von den großen TV-Stationen zum Individuum selbst bringen — in wenigen Jahren werden wir unsere eigene elektronische Realität schaffen können, du in Berlin und ich in Los Angeles.

Das klingt wie der alte Traum, daß jeder Mensch kreativ werden könnte. Ist das realistisch?

Absolut. Du hast ein Telefon, oder? — jeder hat ein Telefon. Bevor einer der größten deutschen Pioniere, Gutenberg, die Druckerpresse erfand, war es ein verrückter utopischer Traum, daß Menschen ein Buch lesen und schreiben können und ihre Gedanken der ganzen Welt mitteilen. Dies war über Jahrtausende einer kleinen Klasse von Priestern vorbehalten. Ich glaube an die Macht des individuellen Geistes, Kommunikation zu nutzen. Das Schöne an einem menschlichen Gehirn ist doch, daß eines viel schlauer ist als eine ganze Gruppe bürokratischer Politiker. Die Elektronen im Hirn von Individuen haben die Berliner Mauer zu Fall gebracht. Die Leute in Ost-Berlin haben ihre Antennen nach Westen ausgerichtet, die Leute in der Tschechoslowakei hörten Rock'n'Roll, sie hörten Bob Dylan, „Follow leaders, watch your parking meters“, und rissen die Mauer ein.

Es ist keine Spinnerei, sondern tatsächlich passiert: elektronische Macht in den Händen des Individuums kann Mauern zu Fall bringen. Vaclav Havel hat 1989 gesagt: „John Lennon war für unsere Revolution wichtiger als John F. Kennedy.“ Diese Lieder, die ein Mann gesungen hat, waren, verstärkt durch Elektronen, gewaltiger als diese ganze kommunistische Maschinerie. Es geschieht, also erzähl mir nichts von einem Tagtraum in Utopia. Interview: Mathias Bröckers

Timothy Leary/Eric Gullichsen: Cybernauts — From Modern Alchemy to New Renaissance. Falcon Press, Los Angeles 1989.

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