: Ist der Westmann weiblicher?
■ Ge-, Miß- und Auffälliges am Westmann Beobachtungen und Deutungsversuche einer Ostfrau zum bislang brachliegenden Forschungsthema
Zu Zeiten, da die Ostfrauen sich noch in aller Unschuld als »Mädchen« bezeichneten und ihre Berufsbezeichnung männlich enden ließen, kannten sie den Westmann nur aus dem Fernsehen oder aus gewissen Diskotheken. Ihrer so beschränkten Erfahrung nach glich er im wesentlichen dem »Schönling« im Osten: braungebrannt und großkotzig. Mit der Mauer fiel auch dieser Keuschheitsgürtel, und welch ein Untersuchungsfeld tat sich auf! Inzwischen liegen die ersten Resultate überwiegend empirischer Forschung vor. Sie sind beschränkt auf die jüngere Altersgruppe (unter 50) und territorial begrenzt auf West-Berlin. Ausgenommen sind die bereits genannte und weitere Sorten Westmann wie der Anzugmann, der Gigolo und der Dressman.
Die bisher gemachten Beobachtungen führen zu einer verblüffenden These: Der Westmann ist dem Weiblichen näher als der Ostmann. Für unbestreitbar kann bereits erklärt werden, daß der Westmann im Durchschnitt schöner ist als der Ostmann. Zwar gibt es auch häßliche West- und — wirklich! — gutaussehende Ostmänner, aber selten, zirka zwei je hundert Stück. Der Westmann versteht es in der Regel recht gut, Typ zu sein. Herausragende Kennzeichen sind individuelle Frisur (der persönlichen Kopfform angepaßt: fransig, mit Koteletten, pomadisiert, gefärbt, lässig durcheinander — unbeschreiblich vielfältig), auffällige Kleidung (Mut zu knalligen Farben, wirren Mustern, edlen Stoffen wie Seide, Leder, zu gewagt weiten oder gewagt engen Hosen) und/oder Brille. Im Westen tragen bedeutend mehr Männer Schmuck als im Osten: Ohrringe jeder Form und Größe, bunte Bänder im Haar, Metallspangen um den Zopf, Schlangenkette am Handgelenk, klobiger Ring, sogar Halsketten. Den meisten steht's.
Darüber hinaus stellt der Westmann seine Eitelkeit in einer Weise bewußt zur Schau, die im Osten nur Frauen zugestanden wird. Sobald er sich in einer größeren Menschengruppe beobachtet weiß, wiegt er sich beim Erzählen aufreizend in den Hüften, wirft das typgerecht geschnittene Haar mit himmelweisendem Schwung hinter sich und unterläßt bei dieser Geste selten einen raschen, beifallheischenden Blick über die Schulter.
Ohnehin scheint der Blick ein recht sicheres Unterscheidungsmerkmal zwischen West- und Ostmännern zu sein. Einem Mann von ferne in die Augen zu sehen ist im Westen wesentlich leichter, da jeder männliche Eintritt in Kneipe, Café usw. ohnehin einem Auftritt gleichkommt, zu dem der lässige Blick in die Runde unbedingt dazugehört. Der Ostmann sieht gewöhnlich schnell weg, wenn ihm unerwartet ein weibliches Augenpaar begegnet. Aus der Nähe stellt sich das genau umgekehrt dar: Der Ostmann läßt herausfordernd den Blick auf seiner Gesprächspartnerin ruhen, der Westmann weicht ihren Augen beharrlich aus oder schlägt die eigenen gar nieder. Lange Zeit unerklärlich schien folgendes Phänomen: Was Frauen im Osten bitterlich beklagen — ungehemmt lüsterne Männerblicke auf Hintern und Busen —, fehlt im Westen gänzlich. Da aber inzwischen das westmännliche Interesse an der körperlichen Beschaffenheit von Frauen durch Interviews zweifelsfrei belegt ist, blieb nur die Hypothese, daß Westmänner den berühmten weiblichen Blick aus den Augenwinkeln angenommen haben. Hierzu der O-Ton eines Westmannes: »Na, laß dich mal bei so einem Blick erwischen!«
Völlig neue visuelle Eindrücke vermitteln Westmänner mit ihrem Gang. Auch hier setzen sie die Hüfte erstaunlich gekonnt ein, schlenkern locker die Füße, legen mitunter das ganze Gewicht auf die Zehenspitzen, um unübersehbar durch die Landschaft zu wippen, kurz, ein gehender Westmann ist ein erfreulicher Anblick. Selbst 14jährige sind hierin ihren Altersgenossen im Osten voraus.
All diese Beobachtungen belegen, daß der Westmann sich von den traditionell »männlichen« Verhaltensmustern bereits weiter entfernt hat als sein östliches Pendant. Geradezu klassisch zeigt sich das an den schlechteren Manieren der Westmänner. Zwar drücken sie in der Öffentlichkeit das Kreuz durch und verharren stundenlang in kerzengerader Haltung, ziehen auch den Bauch ein, bis sie dem Erstickungstod nahe scheinen — dabei jedoch gähnen sie ungeniert, ohne sich die Hand vorzuhalten, oder rekeln sich genüßlich noch im vollsten Café. Wesentliche Höflichkeitsgesten gegenüber Frauen — Tür aufhalten, Mantel abnehmen — scheint der Westmann ganz verlernt zu haben. Passiert dies mit einem Ostmann und weist frau ihren Begleiter auf seine Unaufmerksamkeit hin, reagiert er kaum anders als einsichtig, gar verlegen.
Eine Frau, die im Westen rauchen möchte und im Gegensatz zu ihrem männlichen Gegenüber kein Feuerzeug hat, kann lange auf ihn warten. Keine Regung, ehe sie nicht eindringlich um Feuer gebeten hat. Und nicht etwa, daß er ihr Feuer »gibt«, nein, er hält ihr zerstreut, nach der anderen Seite mit jemandem sprechend, das Feuerzeug hin. Ein Ostmann würde diese Gelegenheit, ihr einen aufmüpfigen Blick zuzuwerfen, selten verpassen. Oder: Eine Frau geht mit einem Westmann einen Schnellimbiß essen. Im Osten könnte sie nun erwarten, daß er ihr tragen hilft oder zumindest mit dem Essen wartet. Nicht so im Westen. Während sie noch in der Schlange steht und anschließend ihren Teller plus Salatschüssel plus Glas durch das Gedränge balanciert, sitzt er schon am Tisch und schlingt in sich rein.
Den Gipfel der Stillosigkeit erreichen Westmänner im Gespräch mit Frauen. Eine kleinere Gruppe verweigert sich durch lustlose, wenig einfallsreiche Antworten. Und frau sieht sich in der Rolle der Verführerin, die geschickt zu erfühlen sucht, worüber er denn lieber spräche. Die Mehrzahl der Westmänner führt gar kein Gespräch, sondern unterhält — sich selbst. Erstens hören sie nicht zu und zweitens nicht auf. Auch wenn frau mal einen interessanten Einwurf wagt, halten sie unbeirrt ihren Vortrag, dozieren weitschweifig und gestenreich, ohne die zwangsläufig eintretende Müdigkeit der Gesprächspartnerin auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
Übrig bleibt die Frage nach dem Mann der Zukunft. Wird der Ostmann, seine »Höflichkeit« beibehaltend, an Frisur, Kleidung, Gang, Bewegung zulegen? Oder der Westmann, gutaussehend und lässig, (wieder) aufmerksamer gegenüber Frauen? Oder mißversteht der Ostmann vielleicht die üblichen Umgangsformen im Westen als »fortschrittlich«, legt die seinen ab, bleibt aber zugleich so unscheinbar wie bisher? Oder der Westmann, des Kleidungsstresses müde, künftig auch in Schlabberjeans? — Aber diese Entscheidungen bleiben wohl allein dem unaufhaltsam voranschreitenden Vereinigungsprozeß überlassen. Susanne Steffen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen