: Verblödung durch Übersättigung
■ Alexander Solschenizyn über die Entwicklung in Rußland DOKUMENTATION
Erstmals seit Gorbatschows Machtantritt hat sich der Autor des „Archipel Gulag“ politisch geäußert, in einer fünfzigseitigen Broschüre, die vorgestern in Paris erschien und auch in der sowjetischen 'Komsomolskaja Prawda‘. Titel: „Comment réaménager notre Russie?“ (1) (etwa: „Wie haben wir unser Rußland einzurichten?“) Auszüge.
Perestroika
„Worin besteht sie nun, die seit fünf Jahren so lärmend bejubelte Perestroika? In kleinen Veränderungen im Zentralkomitee. In einem monströsen und künstlichen Wahlsystem, das allein dem Machterhalt der Kommunistischen Partei dient. In fehlerhaften, unklaren, vagen Gesetzesformulierungen.
Nein (...), die Kommunistische Partei darf nicht nur bei irgendwelchen Verfassungsartikeln nachgeben. Wir haben nichts zum Guten gewendet, solange sie nicht von jedwedem Einfluß auf Wirtschaft und Staat ferngehalten wird, und solange sie nicht vollständig aufhört, uns zu regieren, in welchem Lebensbereich und an welchem Ort auch immer.
Und über uns schwebt immer noch der Granitblock des KGB, er hindert uns, in die Zukunft zu gehen. (...) Dieser TschekaGB (1) mit seiner sechzigjährigen blutigen und niederträchtigen Geschichte hat keine Existenzberechtigung mehr.“
Glasnost
„Was sollen wir von den gloriosen Triebkräften Glasnost und Perestroika halten? Das Wort der Reinigung findet sich nicht unter diesen Modewörtern. Und all die Drecksmäuler, die jahrzehntelang dem Totalitarismus gedient haben, stürzen sich jetzt auf Glasnost. Von vier Fürsprechern von Glasnost sind meistens drei, die schon unter Breschnew Opportunisten waren: Wer hat von denen jemals seine persönliche Reue ausgedrückt, statt die anonyme ,Stagnation‘ zu beklagen?
Manchen ist schon klar und anderen wird bald klarwerden, daß die unerträgliche Flut an überflüssigen und detaillierten Informationen unsere Seele ruiniert, bis hin zur geistigen Armut; jenseits einer gewissen Grenze muß man sich auch vor Informationen schützen. In der Welt von heute gibt es viel zu viele Zeitungen, eine ist dicker als die andere, jede will uns als erste niederschmettern. Es gibt immer mehr Fernsehsender, die selbst tagsüber laufen. (...) Wie sollen wir noch das Recht unserer Ohren auf die Stille verteidigen und das Recht unserer Augen auf den inneren Blick?
Niederdrückend ist auch, daß die intellektuelle Pseudo-Elite, die von dieser publizistischen Konkurrenz erzeugt wird, den Absolutheitscharakter der Begriffe des Guten und des Bösen lächerlich macht und ihre Gleichgültigkeit beidem gegenüber als 'Pluralismus der Ideen und Handlungen‘ verschleiert.“
Wirtschaft und Eigentum
„Sechs Jahre sind es bald, und der Lärm der Perestroika hat in Landwirtschaft und Industrie immer noch nichts bewirkt.
Die einfache Kopie eines fremden Wirtschaftstyps, der dort (im Westen) schon vor Jahrhunderten und etappenweise eingeführt wurde, wäre ebenfalls vernichtend. (...) Man muß einer gesunden Initiative Raum geben, alle Arten von kleinen Unternehmen stützen und verteidigen. (...) Die Möglichkeit einer ungebremsten Kapitalkonzentration muß durch das Gesetz mit Entschlossenheit begrenzt werden. In keinem Sektor darf die Bildung von Monopolen erlaubt sein, die Kontrolle von Unternehmen durch andere. (...) Im Westen werden heute in atemberaubender Geschwindigkeit immer neue und reißerischere Modelle auf den Markt geworfen, während der gesunde Begriff der ,Reparatur‘ verschwindet. (...)
Eigentum und Interessen dürfen kein soziales Übel werden. (...) Die Banken sind notwendig als operative Zentren des Finanzlebens, aber sie dürfen sich nicht zu wucherischen Auswüchsen und geheimen Herren über alles Leben verwandeln. (...)
Der Preis unseres Wegs aus dem Kommunismus darf nicht sein, daß unsere Bodenschätze, unsere Erde und besonders unsere Wälder ausländischen Kapitalisten zum Fraß vorgeworfen werden. Die Vorstellung, daß das Fremdkapital retten könnte, was durch unsere eigene innere Unordnung zerstört wurde, ist sehr gefährlich.
Wer unseren Dörfern Privateigentum verweigern wollte, würde sie für immer einschließen. Aber es muß vorsichtig eingeführt werden. (...) Fast könnte man schon heute über ,Aktiengesellschaften‘, ,Organisationen‘ und Kooperativen Latifundien aufkaufen, um dann die Bauern zu verjagen, von Landkäufen durch Ausländer ganz zu schweigen. Solche Erwerbungen dürfen in keinem Fall zugelassen werden.“
Der Westen
„Der inzwischen historische Eiserne Vorhang hat uns bemerkenswert wirksam vor allem geschützt, was im Westen gut ist: natürliche Verhältnisse zwischen den Bürgern, Respekt vor der Einzelperson, persönliche Handlungsfreiheit, allgemeiner Wohlstand, Wohltätigkeit. Aber ganz heruntergelassen war der Vorhang nicht. So konnte die Jauche der ,Massen- und Popkultur‘ und der vulgärsten Moden hindurchfließen. (...) Die westliche Jugend verblödet aus Übersättigung; unsere Jugend greift in ihrem Elend bedenkenlos nach ihren Vergnügungen. Und unser heutiges Fernsehen beeilt sich, diese unreinen Ströme im ganzen Land zu verteilen.
Die westliche Demokratie nährte sich ursprünglich aus den christlichen Gefühlen der Verantwortung und Selbstdisziplin. Aber diese geistigen Fundamente sind nach und nach morsch geworden. Die Unabhängigkeit des Geistes ist irregeführt worden, sie verbeugt sich vor der Diktatur des Vulgären, vor der Mode und den Gruppeninteressen. Wir treten in die Demokratie in einer Phase, wo sie selbst nicht mehr gesund ist.“
Politik und Moral
„Die Staatsstrukturen sind weniger wichtig als das Klima in den zwischenmenschlichen Beziehungen. (...) Das politische Leben ist keineswegs der wichtigste Aspekt im Leben eines Menschen. (...) Je mehr sich das politische Leben ausbreitet, desto mehr verliert sich das der Seele. (...)
Die Reinheit der sozialen Beziehungen ist wesentlicher als der Überfluß. Wenn eine Nation ihre geistigen Kräfte erschöpft hat, können weder das beste Staatssystem noch die industrielle Entwicklung ihr Überleben sichern: Mit verdorbenem Mark hält sich kein Baum aufrecht. Unter allen möglichen Freiheiten wird die zur Unehrlichkeit jedenfalls gleich an die erste Stelle treten. (...)
Jahrzehntelang fanden die wahren Unglücke des Landes in Moskau keinen Ausdruck. Und schon haben wir uns im Tumult der Meetings und der vielen entstehenden Mikroparteien wieder jenes Harlekin-Kostüm angezogen, das wir schon einmal anhatten, in jenen finsteren acht Monaten von 1917 (2). (...) Die Anarchie ist das Grundübel. 1917 hat es gezeigt.“
Menschenrechte
„,Menschenrechte‘ schön und gut, aber wie passen wir auf uns selbst auf, daß unsere Rechte sich nicht auf Kosten anderer ausdehnen? (...) Das Recht zu nehmen und sich zu sättigen gibt es auch bei den Tieren. Die menschliche Freiheit schließt auch die natürliche Selbstbeschränkung ein, zugunsten der anderen.“ Aus 'Le Monde‘;
Übersetzung: Thierry Chervel
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