: Sechs Flics und ein verschwundener Pastor
Seit zwei Monaten gibt es kein Lebenszeichen mehr von Joseph Doucé, dem guten Hirten der sexuellen Minderheiten in Paris, nachdem ihn zwei angebliche Polizisten aus seiner Wohnung abholten/ Ermittlungen gegen sechs Geheimpolizisten ■ Aus Paris A. Smoltczyk
Wo steckt Pastor Doucé? Seit dem 19. Juli, als zwei angebliche Polizisten den guten Hirten der sexuellen Minderheiten in Paris „nur für eine Vernehmung“ abholten, gibt es kein Lebenszeichen. Auch sein Konto weist keine Bewegungen auf. Die Freunde haben jedes Kommissariat, jedes Krankenhaus, Gefängnis und Leichenschauhaus abgeklappert — nichts. Keine Spur. „Da sind einem Flic die Nerven durchgegangen“, meint man in der Schwulenszene. „Eine mysteriöse Geschichte“, gibt man in Justizkreisen zu, und: „Das geht hoch hinauf...“
Die Rue Clairaut ist eine ruhige Seitenstraße im 17. Pariser Bezirk. 1976 eröffnete der Baptistenpfarrer und Psychologe Doucé hier, im unscheinbaren Haus Nummer 3b, sein „Centre Christ Libérateur“ — ein Beratungs- und Selbsthilfezentrum für sexuelle Minderheiten. Gottesdienste, ein monatliches Bulletin, Gesprächsgruppen für Transsexuelle, gemeinsame Weihnachtsfeiern und — zum Entsetzen seiner Kirche, die Doucé daraufhin die Erlaubnis zur Predigt entzog — mit dem kirchlichen Segen versehene „Freundschaftsbünde“ zwischen Homosexuellen: „Jesus Christus will, daß der Mensch frei und in seinen Anlagen entfaltet sei.“
Wegen angeblicher Hinweise auf einen Zuhälterring für Pädophile, der mit dem Zentrum zu tun haben soll (Doucé veranstaltete regelmäßig einen Gesprächskreis für Pädophile), trat zu Anfang des Jahres der „Rensignement général“ (RG) auf den Plan, die dem Innenminister unterstellte politische Polizei. Doucé wird beschattet, vermutlich auch abgehört. Nachdem die Ermittlungen erfolglos bleiben, wird eine Sondereinheit der RG eingeschaltet, die „Groupe des enquetes réservés“ (GER) — eine mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete Elitetruppe, die für besonders „sensible“ Aufträge zuständig ist — ohne jegliche Kontrolle der Justizbehörden.
GER-Inspektor Dufourg wird beauftragt, Spitzel in das „Centre Christ Libérateur“ einzuschleusen. Dufourg? Ein Inspektor, der sich seine Sporen auf der Terroristenjagd erworben hat und über den ein interner Aktenvermerk existiert: „gefährlich und homophob“. Zeitungen wollen auch von Kontakten Dufourgs zum rechtsradikalen Milieu wissen. Es wird lauter in der ruhigen Rue Clairaut. Am 19. Juni wird Doucés Freund und Mitarbeiter Guy Bondar mitten in der Nacht durch lautes Trommeln an der Tür des Zentrums geweckt: „Aufmachen, Polizei!“ Als die Männer versuchen, die Tür einzutreten, alarmieren Bondar und Doucé die Funkstreife — doch die drei Randalierer entpuppen sich als Mitglieder der GER und werden laufengelassen. Wenige Tage später erscheinen dieselben Geheimpolizisten an der Wohnungstür eines gewissen Pierre D., den sie als Spitzel rekrutieren wollen. Als D. nicht öffnet, schießen Dufourg und seine zwei Kollegen in die Wohnungstür. Pierre D. macht einen Selbstmordversuch.
Dann jener Abend des 19. Juli. Doucé unterhält sich mit zwei Bekannten, da klingeln zwei Männer, zeigen ihren Polizeiausweis und fordern den Pfarrer auf, ihnen zu folgen. Es gebe einige Formalitäten zu regeln. Bondar und ein zweiter Zeuge sehen die Männer nur von hinten, werden sie später nicht mit Sicherheit identifizieren können. Doucé nimmt sein Adressbuch mit, nicht jedoch seine Medikamente — und ist seither verschwunden. Die Pariser Polizei gibt an, nichts von einer Vorladung des Pastors am betreffenden Tag zu wissen, zeigt ansonsten auch keinen übermäßigen Eifer, dem verschwundenen Doucé nachzuspüren. Man verdächtigt das Centre, einen Medien-Coup gelandet zu haben und beschlagnahmt zunächst einmal den Computer Doucés. Ein junger Deutscher, der noch am späten Nachmittag des 19. Juli zwei vermutliche Geheimpolizisten in Doucés Buchladen „Autres Cultures“ beobachtet hat, wird 24 Stunden in eine kotige, kakerlakenverseuchte Mini-Zelle im Kommissariat Conciergerie gesperrt.
Guy Bondar stellt ein Unterstützungskomitee auf die Beine, geht an die Öffentlichkeit. So erfährt auch Pierre D. aus der Zeitung von dem Vorfall und nimmt Kontakt zur Kriminalpolizei auf. Die wiederum ist traditionell nicht gut auf die nahezu unkontrolliert operierende innerpolizeiliche Konkurrenztruppe GER zu sprechen und nimmt die Ermittlungen auf. Mit erstem Erfolg: Vergangenen Donnerstag wurden Dufourg und drei weitere Angehörige von GER und RG festgenommen. Gegen insgesamt sechs Polizisten werden interne Ermittlungen eingeleitet, Dufourg bis auf weiteres in Haft gehalten. Die Super-Flics geben zu, auf die Wohnungstür des Pierre D. Schüsse abgegeben zu haben. Nur — von der Entführung des Pastors, den sie wochenlang unentwegt beschattet haben, wüßten sie nichts. Ausgerechnet am Abend des 19. Juli seien sie „undercover“ auf der Jagd nach Vorstadtdealern gewesen. Überprüfbar ist ihr Alibi allerdings erst ab Mitternacht, als sie in ihrer Stammkneipe gesehen worden sind.
Wo steckt Pastor Doucé? Wollte hier ein übereifriger Flic auf der Suche nach rosa Listen den Pastor zur Mitarbeit erpressen und hat dabei die Nerven verloren? Das Dienstauto der Polizeipräfektur, aus dem heraus Doucé beschattet worden war, wurde inzwischen generalgereinigt und neu lackiert. Um Spuren zu beseitigen? Oder hatte der Pastor mächtige Feinde im Pariser Milieu? Aber weshalb wurde dann die Beschattung ausgerechnet am Tag der Entführung ausgesetzt?
Fragen über Fragen. Und nur eine unbewußte Antwort: Im „Centre Christ Libérateur“ in der ruhigen Rue Clairaut wird vom guten Pastor Joseph Doucé nur noch in der Vergangenheitsform gesprochen.
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