Sowjetmacht in der Wirtschaftskrise: Rußland fordert KPdSU an runden Tisch
■ Während das sowjetische Parlament über das Ende von Sozialismus und Planwirtschaft debattiert, hat das Parlament der Russischen Föderation den Rücktritt der Regierung Ryschkow gefordert.
Das Parlament der Russischen Föderation hat gestern in Moskau mit überwältigender Mehrheit den Rücktritt der sowjetischen Regierung unter Ministerpräsident Nikolai Ryschkow gefordert. Der Appell an die sowjetische Regierung soll erst heute vollständig veröffentlicht werden. Für einen Rücktritt Ryschkows stimmten 154 und damit 61,5 Prozent der anwesenden Abgeordneten, dagegen stimmten 4 Parlamentarier, 18 enthielten sich.
In dem Antrag, der durch das russische Parlament nun dem Obersten Sowjet der UdSSR vorgelegt wird, wird der „unverzügliche Rücktritt der Regierung Ryschkow und die Bildung einer neuen Regierung des nationalen Vertrauens“ gefordert. Dem sowjetischen Ministerrat wird „Inkompetenz“ bei den Bemühungen um einen Reformplan des Übergangs zur Marktwirtschaft vorgeworfen. Ryschkow selbst hatte wiederholt öffentlich erklärt, daß seine Regierung das von Akademiemitglied Stanislaw Schatalin ausgearbeitete Reformprogramm für die Einführung des Marktes innerhalb von 500 Tagen nicht erfüllen könne.
Koalitionsregierung unter Sobtschak gefordert
Dieses Programm, das das russische Parlament vor einer Woche verabschiedete, hatte auch die weitgehende Zustimmung durch Präsident Gorbatschow gefunden.
Gleichzeitig hat eine Gruppe von zwölf im „Zentristischen Block“ zusammengeschlossenen oppositionellen sowjetischen Parteien und Vereinigungen die Bildung einer Koalitionsregierung gefordert. Wie der Vorsitzende der Gruppierung, Wladimir Woronin, in Moskau mitteilte, soll der parteilose Leningrader Bürgermeister Anatoli Sobtschak das Amt des Regierungschefs übernehmen. Der Politiker habe bereits seine Zusage gegeben, diese „Regierung des nationalen Vertrauens“ zu leiten.
Der Block habe zudem bereits eine Kabinettsliste ausgearbeitet, fügte Woronin hinzu. Die Zahl der Ministerien soll mit nur noch 22 radikal verkleinert werden. An der Regierung würden Vertreter aus sieben Parteien teilnehmen. Rund ein Drittel der Regierung wären Parteilose, ein Viertel der Minister würden ihre Posten behalten. Der Zentristische Block will zusammen mit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion am runden Tisch über die Bildung der Koalitionsregierung verhandeln.
Wladimir Woronin meinte, angesichts der schweren Krise sei eine arbeitsfähige Regierung unbedingt notwendig. Sobtschak sei der geeignete Politiker für deren Führung.
Solschenizyn: Perestroika viellärmig und verworren
„Die Uhr des Kommunismus ist abgelaufen, aber der Betonbau ist noch nicht eingestürzt, und wir laufen Gefahr, anstelle der Befreiung von seinen Trümmern zerquetscht zu werden“, schreibt der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn. In einer Auflage von 22 Millionen hat die Tageszeitung 'Komsomolskaja Prawda‘ am Dienstag sein 16seitiges Manifest „Wie richten wir Rußland richtig ein“ abgedruckt. Der 1974 ausgebürgerte und im US-Exil lebende Schriftsteller fordert eine sofortige Trennung von den nichtslawischen Republiken und einen totalen Machtverzicht der Kommunisten. „Siebzig Jahre lang haben wir uns hinter der sich blind gebärdenden und bösartigen Marx-Leninschen Utopie hergeschleppt und dabei ein Drittel unserer Bevölkerung unter das Beil geliefert oder dem stümperhaft durchgeführten, sogar selbst vernichtenden ,vaterländischen‘ Krieg geopfert.“ Die Perestroika bezeichnete er als „viellärmig“ und „verworren“.
Ryschkow droht mit Rücktritt
Das Solschenizyn-Manifest platzt in die Beratungen des Obersten Sowjets in Moskau zur Einführung der Marktwirtschaft. Der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Ryschkow hatte am Dienstag seinen möglichen Rücktritt oder andere Konsequenzen für den Fall angedeutet, daß das sowjetische Parlament radikale Wirtschaftsreformen beschließt, die er nicht vertreten könne. „Ich werde nur das durchführen, von dessen Richtigkeit ich überzeugt bin, sagte Ryschkow am Dienstag. Ryschkow vertritt den am wenigsten weitgehenden der drei dem Parlament vorliegenden Entwürfe für einen Übergang der sowjetischen Wirtschaft von der bisherigen zentralen Planwirtschaft zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung.
Schon vor den Beratungen hatte Ryschkow gesagt, daß er bei einer Abstimmungsniederlage „die Verantwortung vor dem Volk und dem Obersten Sowjet übernehmen“ werde. Ob er damit seinen Rücktritt meinte, sagte Ryschkow nicht.
Sobtschak: Reform ohne Weg?
Im sowjetischen Parlament hat am Dienstag in der Debatte über den besten Weg zur Marktwirtschaft der als Radikalreformer geltende Leningrader Oberbürgermeister Anatoli Sobtschak eine harte Kritik an allen vorliegenden Programmen vorgetragen. Sobtschak erhob den Vorwurf, daß den drei unterschiedlichen Reformplänen, die Gegenstand der Beratungen sind, gleichermaßen ein Mechanismus zur Verwirklichung und damit das Wichtigste fehle.
In Anwesenheit von Ryschkow und Staatspräsident Michail Gorbatschow beschuldigte Sobtschak die Regierung, die Arbeit jenes Ausschusses blockiert zu haben, der einen Kompromißvorschlag für die Einführung der Marktwirtschaft habe vorbereiten sollen.
Als Gefahren für die Verwirklichung eines jeden Reformplans sieht der Leningrader Politiker nach eigenen Worten die mit den vermehrt auftretenden Souveränitätserklärungen einzelner Republiken verbundene Praxis, Unionsentscheidungen auszusetzen. Unter teils heftigen Unmutsäußerungen im Parlament forderte er den Ausschluß von Republiken aus der Union für den Fall, daß eklatant gegen Unionsentscheidungen verstoßen werde. Proteste zog Sobtschak auch auf sich, als er Gorbatschow ersuchte, die Ausgaben für Tagungen einzuschränken.
Mehr Vollmachten für Gorbatschow?
Die Abgeordneten des sowjetischen Parlaments haben am Mittwoch in Ausschüssen mit der Beratung eines Antrages begonnen, mit dem Präsident Michail Gorbatschow weitere Sondervollmachten bei der Reform der Wirtschaft eingeräumt werden sollen. Wie der Leningrader Bürgermeister und Volksdeputierte Anatoli Sobtschak am Vorabend mitteilte, wurde ein entsprechender Antrag vom Plenum als „unausgereift“ zurückgewiesen. „Nicht wenige“ Parlamentarier seien grundsätzlich dagegen, Gorbatschow mit zusätzlichen Vollmachten auszustatten.
Lettland für Wirtschaftsunion
Die Schaffung einer Wirtschaftsunion bei Wahrung der vollen politischen Selbständigkeit aller Beteiligten sowjetischen Republiken hat der lettische Ministerpräsident Ivars Godmanis befürwortet. Godmanis informierte auch über den Abschluß eines Wirtschaftsabkommens zwischen den Regierungen Lettlands und Rußlands. Danach sollen die gegenseitigen Warenlieferungen 1991 auf dem Niveau dieses Jahres beibehalten werden.
Gegenwärtig verzeichnet die baltische Republik im Handel mit Rußland ein Negativ-Saldo in Höhe von 300 Millionen Rubel. Außer mit der Russischen Föderation will Lettland in nächster Zeit auch mit Belorußland, der Ukraine, Kasachstan und anderen Republiken derartige Abkommen unterzeichnen. ap/adn/dpa
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