: Ein Denkmal in Bewegung
■ „Kunst & Kosmologie“: Der Philosoph Hans-Georg Gadamer (Jg. 1900) war in Oldenburg
In Oldenburg wurde er mit ganz besonderer Spannung erwartet: Der 90jährige Philosoph Hans- Georg Gadamer sprach beim fünften Kolloquium der „Karl- Jaspers-Vorlesungen zu Fragen der Zeit“. Obwohl er in seinem hohen Alter als Denkmal gehandelt wird, wich bei einem „Akademischen Frühstück“ mit einer studentischen Vorbereitungsgruppe alsbald die Atmosphäre respektvoller Rücksichtnahme. Es entspann sich ein intensives, konzentriertes Gespräch.
Gadamer gilt auf dem Gebiet des Lösens von Erstarrtem als Spezialist: Er wendet sich gegen die Verödung der menschlichen Umwelt durch Naturwissenschaft und Technik und in vorausgreifender Weise bereits gegen die geistige und ökologische Sackgasse der modernen Industriegesellschaft. Gegen die Beschränkung der Geisteswissenschaft unter dem Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Methoden und gegen die Mode immer neuer Methoden entwarf er seine Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik.
In seinem Aufsatz „Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist“ bemerkte Odo Marquardt süffisant: „Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: Wozu — wenn man doch den Text hat — brauchte man sie sonst?“ Warum es die Hermeneutik gibt, beantwortete Gadamer in seinem Vortrag zum Thema: „Kunst und Kosmologie“ im zum Bersten gefüllten Vortragssaal der Universitätsbibliothek.
Mit Beginn der Neuzeit sei das geozentrische und anthropozentrische Erlebnis von Ordnung verlorengegangen. An die Stelle der kosmologischen Einbindung der Antike sei die Kunst getreten. Das Kunstwerk ermögliche eine Ordnungserfahrung: als Totalität im Kleinen, als ein Ganzes, dessen einzelne Momente sinnvoll aufeinander bezogen seien. Hermeneutik sei, so Gadamer, eigentlich keine neue Methode und unternehme lediglich den Versuch zu verstehen. Dabei sei entscheidend, daß man lerne zuzuhören. Das Wort sei nicht nur Ant- wort auf Fragen, die wir selbst an das Kunstwerk stellen, in der Kunst könne man auch Fragen begegnen nach einer Wahrheit, die über das naturwissenschaftlich Beweisbare hinausreichen.
Mythologie? Spekulation?
Das Podiumgespräch am zweiten Tag des Kolloquiums gab Gelegenheit, die Probleme zu erörtern, die der Vortrag aufgeworfen hatte. Z.B., ob die Kunst in diesem Verständnis nicht zum Religions-und Mythologieersatz werde und ob die Hermeneutik nicht hemmungsloser Spekulation Tür und Tor öffne. Verblüffend war in dieser Diskussion immer wieder, wie die am Denken Gadamers entzündenden Widersprüche sich in eben diesem Denken aufgehoben zeigten.
Insgesamt war dieses zweitägige Kolloquium das bisher faszinierendste der Reihe, die im November mit einer Antrittsvorlesung von Ivan Illich fortgesetzt wird, der ab dem Wintersemester Gastprofessor in Oldenburg ist.
Christiane Maaß
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