piwik no script img

Finanzen gekappt — Ärzte im Koma

■ Regelungen im Einigungsvertrag treiben DDR-Ärzte in finanzielle Not/ Heute nachmittag Demonstration der Ärzteverbände vor dem Reichstagsgebäude/ Am Freitag mit Warnstreiks Zeichen gesetzt

Berlin (taz) — Den Polikliniken einen langsamen Tod und privaten Niederlassungen die Fehlgeburt — so nur lassen sich die gesundheitspolitischen Regelungen im Einigungsvertrag interpretieren. Erst wird den Polikliniken und Ambulatorien die Zulassung für die nächsten fünf Jahre garantiert und dem freiberuflichen Arzt gar versprochen, in Zukunft „maßgeblicher Träger der ambulanten Versorgung“ zu sein (Sachgebiet: Krankenversicherung — Gesundheitliche Versorgung, Abschnitt II). Doch schon der folgende Abschnitt macht alle guten Hoffnungen zunichte. Dort ist festgelegt, daß die Ärzte und Zahnärzte der DDR ihre Leistungen von den Krankenkassen nur mit 45 Prozent des westdeutschen Gebührensatzes vergütet bekommen. 11 DDR-Verbände, darunter der Virchow-Bund, der Verbund der Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen sowie der Polikliniken und Ambulatorien, wollen heute 15 Uhr vor dem Berliner Reichstagsgebäude ihren Unmut gegen diese halsabschneiderische Festlegung demonstrieren. Leicht kommt der Verdacht auf, den Medizinern ginge es nur um reichlich klingende Münze für das private Wohlbefinden. Doch mit dem vorgesehenen 45prozentigem Gebührensatz können noch nicht einmal die zu 100 Prozent aus der Bundesrepublik herüberschwappenden Kosten für medizinisches Gerät und Material sowie für Miete, Wasser und Energie beglichen werden. Zwei junge Zahnärzte aus Pankow haben errechnet, daß sie im günstigsten Falle 20 Jahre löhnen müßten, um ohne Gewinn den Kredit für die Gründung einer gemeinsamen Praxis abzutragen. Damit würde das wirtschaftliche Chaos in der DDR durch den endgültigen Niedergang der medizinischen Versorgung ergänzt. Diesen Tatsachen kann sich auch Bundesarbeitsminister Norbert Blüm nicht mehr entziehen, der hoch reizte, um sich die DDR als Experemtierfeld für seine kostendämpfenden Strategien zu sichern. Nach einer Beratung mit DDR-Gesundheitsminister Kleditzsch vom 11. September hatte er zunächst formuliert, daß der Einstiegsbeitrag für die Gebühren „unter Beachtung der eingetretenen Grundlohnentwicklung“ neu festgesetzt und eine „Überprüfung und gegebenenfalls Dynamisierung der Vergütungen“ mindestens vierteljährlich erfolgt. Auf die steigenden Sachkosten mußte ihn erst sein DDR- Kollege aufmerksam machen. Kleditzsch hat sich am Dienstag dieser Woche mit den Vertretern von Ärtzekammern, und Verbänden der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker der DDR darauf geeinigt, daß 70 Prozent des gegenwärtigen bundesdeutschen Punktwertes, nach dem die Gebühren für medizinische Leistungen bestimmt werden, nicht unterschritten werden dürfen. Mit der heutigen Demonstration soll dem Minister für die anstehenden Verhandlungen mit Blüm der Rücken gestärkt werden. Auf schärfere Kampfmaßnahmen wollen die Ärzteverbände verzichten. Dabei ist die Höhe der Gebühren nur ein Problem. Langsam entscheiden müßte sich Minister Blüm, wie das milliardengroße Loch in der Krankenkasse der DDR gestopft wird: durch einen Kassenausgleich von West nach Ost oder durch Zuschüsse aus Bundesmitteln. Oder: warum soll es günstig sein, das Gros der Polikliniken in freie Niederlassungen zu zerhacken. Das Zusammenspiel verschiedener Fachrichtungen hat nachweislich Vorteile für die Betreuung der Patienten. Dieses auch ökonomisch effektiv zu halten, gibt es genügend betriebswirtschaftliche Möglichkeiten. Doch bei einer Zulassungsbeschränkung von 5 Jahren sind die Banken kaum bereit Kredite zu geben. Gründe genug für hunderte Ärzte sich nicht der „diplomatischen“ Zurückhaltung ihrer Verbände anzuschließen. Am Freitag fanden in Schwerin, Berlin, Frankfurt und anderen Städten Warnstreiks statt. Dort ist das Vertrauen in die Verhandlungskraft von Minister Kleditzsch offensichtlich erschüttert. Irina Grabowski

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen