KOMMENTAR: Einer bekennt sich zur Stasi - nur einer?
■ Die Volkskammer hinterläßt mit der verschwiegenen Stasi-Geschichte eine Hypothek
Wenn etwas die Volkskammer über alle Parteigrenzen hinweg geeint hat, dann war es die Angst vor dem eigenen Volk. „Hexenjagd“, „Lynchjustiz“ und selbst „Pogrome“ trauten die Volksvertreter ihren WählerInnen zu, wenn diese oder die Medien der Stasi-Vergangenheit zu nahe kamen. In Angst und Schrecken versetzte der harmlose „Sturm auf die Normannenstraße“ die Politiker. Fast panisch reagierten sie auf die Veröffentlichung der Adressenliste ehemaliger Stasi- Objekte. Und mit laut verkündeten Horrorszenarien wehren sie sich jetzt gegen die Namensnennung der „betroffenen“ Abgeordneten und Minister, die für das MfS tätig waren.
Jene Angst, die einen Familienstreit, eine einzelne Schlägerei oder ein paar rechtsradikale Grafitti in die angeblich drohende Vorherrschaft von Gewalt und Terror verwandelt, ist das Produkt von 40 Jahren Vertuschung — real existierender Probleme. So ist es kaum verwunderlich, daß sich niemand der Vergangenheit stellt. Unerträglich indes die gebetsmühlenartig wiederholte Beschwörung der „Vergangenheitsbewältigung“ durch die Politiker aller Couleur. Sie reproduzieren nichts als den mit der Muttermilch eingesogenen Opportunismus. Wenn sich Rachegefühle wirklich entwickeln, dann wegen der Geheimniskrämerei, der allseitigen Verdrängung.
Insofern ist der Schritt des PDS-Abgeordneten Rainer Börner mutig. Das um so mehr, als seine Fraktion ihn mit den erbärmlichsten parteitaktischen Methoden bedrängte zu schweigen. Börner, der keinen „blauen Brief“ vom Ausschuß erhielt und als jemand gilt, der die „Erneuerung“ der PDS ernsthaft probiert, hat mit seinem Bekenntnis vor allem eines geleistet: er hat eingestanden, daß es individuelle Mitverantwortung gibt. Ohne diese aktive Mitarbeit vieler Einzelner hätte das SED-Regime nicht vier Jahrzehnte bestehen können.
Börners Bekenntnis kommt spät. Handelt es sich um eine (zu) späte Flucht nach vorn? Auch läßt das Schreiben einige Frage offen. Welche „Informationen“ wollte das MfS von ihm haben? Warum ließ Börner sich ins Parlament wählen?
Aber das sind Fragen, die Börners Bekenntnis voraussetzen und jetzt gestellt und besprochen werden können. Leider ist nach der Volkskammerdebatte vom Donnerstag kaum zu erwarten, daß weitere Abgeordnete sich dem Beispiel Börners anschließen. Dieses Parlament hat unendlich viel versäumt. Die schwerste Hypothek, die es dem neuesten Deutschland hinterläßt, ist die verpaßte Chance, die Stasi-Vergangenheit ebenso schnell wie genau aufzuarbeiten. Die Vergangenheit ist nicht die eines abstrakten Systems, sondern die von Individuen. Ihre Verantwortung muß greifbar, konkret benannt werden. Nur so können die Voraussetzungen für Versöhnung, für die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Friedens geschaffen werden. Petra Bornhöft, West-Berlin
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