: „Namensnennung begünstigt Lynchjustiz“
Volkskammer weigert sich, Namen von Abgeordneten und Ministern mit Stasi-Vergangenheit zu nennen/ Antrag an Ausschuß verwiesen/ Der PDS-Abgeordnete Rainer Börner bekennt sich zu seiner Arbeit für das MfS/ Ullmann: „Hochanständig, ein Vorbild“ ■ Von Petra Bornhöft
Berlin (taz) — Es hatte sich bereits am Nachmittag bis zu Bänken der CDU herumgesprochen, daß „ein belasteter Abgeordneter die Hosen runter lassen“ und sich öffentlich zu seinem Engagement für die Stasi bekennen würde. In der Fraktionssitzung der PDS schlugen die Wellen hoch, als Rainer Börner, PDS-Präsidiumsmitglied, eröffnete, er werde seinen Brief an die Besetzer der Stasi- Zentrale öffentlich vortragen. In dem Schreiben offenbart der ehemalige hauptamtliche FDJ-Funktionär, eine Verpflichtungserklärung für das MfS unterschrieben und „Informationen“ weitergegeben zu haben (siehe Dokumentation). Entsetzt und mit überdeutlicher Mehrheit rieten PDS-Politiker ihrem Genossen ab, warfen ihm „parteischädigendes Verhalten“ vor.
Wenig Unterstützung erhält der 34jährige Diplomwirtschaftler von Parteichef Gregor Gysi am Abend in der Parlamentsdebatte zum Antrag von Bündnis 90/Grüne, die Namen von neun Abgeordneten und Ministern zu nennen, denen der Volkskammerausschuß dringend eine Mandatsniederlegung bzw. den Rücktritt empfohlen hatte. Gysi wörtlich: „Es sind nicht die Voraussetzungen gegeben, über die individuelle Vita zu berichten.“ Schärfer noch der CDU-Abgeordnete Geisthard: „Wenn jetzt Namen genannt werden, begünstigen wir die Lynchjustiz.“ Eine Einschätzung, die sich quer durch nahezu alle Fraktionen zieht und offenbar auch vom Parlamentspräsidium geteilt wird. Bleich und mit gequälter Miene hört Börner, wie ein FDP-Parlamentarier herfällt über die „skrupellosen Menschen, die sich für dieses Parlament haben aufstellen lassen“, mit welcher „Unverschämtheit und Ignoranz sie heute über den Einigungsvertrag abstimmten“. SPD-Parteichef Thierse „fällt es schwer, dem Antrag zuzustimmen“, doch die Volkskammer habe die „Pflicht zur moralischen Selbstreinigung“, sie müsse sich „diesen Schritt der Offenlegung leisten, um ein Ende der Vertuschungen und fortlaufenden Verdächtigungen zu ermöglichen“. Das wollen angeblich alle. Aber Geisthard warnte erneut: „Wenn Sie Namen nennen, können Sie den Betroffenen gleich einen Strick mitgeben.“
Mit Mehrheitsstimmen aus allen Fraktionen versenkt das Parlament den Antrag in den Ausschuß, der laut Höppner „am Montag seine Arbeit abschließen wird“. Ob Börner, der keinen „blauen Brief“ vom Ausschuß erhalten hat, schweigen wird? Fragende Blicke richten sich auf ihn. Doch dann ruft Parlamentsvizepräsident Höppner ihn als letzten Redner zum Punkt „Persönliche Erklärungen“ auf. Er sei „gegen eine Veröffentlichung der Namen, um die Atmosphäre in der Volkskammer nicht weiter zu verschärfen“, fordert „Offenheit und Toleranz als notwendige Voraussetzung für eine differenzierte Bewertung“. Dann trägt er den Brief an Bärbel Bohley, Reinhard Schult und Wolfram Kempe (Redakteur bei 'Die Andere‘) vor. Höppners Versuch, Börner mit Hinweis auf die dreiminütige Redezeit abzuwürgen (stundenlang durfte zuvor Staatssekretär Wutzke belangloses Zeug schwafeln), scheitert. Atemlose Stille, wirklich bewegte Mienen — und dann vorsichtiger Beifall aus allen Parteien. Viele schütteln Börner schweigend die Hand.
Kurz kommentiert Ullmann: „Das war anständig, ein Vorbild, dem hoffentlich gefolgt wird.“ Tschiche (Bündnis 90) findet Börners Verhalten „hervorragend, so kriegt man die Totschlagmentalität weg“. Den Grund für die respektvollen Bemerkungen nennt ein alter CDUler: „Der Mann hat gezeigt, was in 40 Jahren DDR normal und typisch war.“
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