: Offener Brief an die BesetzerInnen
■ Rainer Börner verlas den an Bärbel Bohley, Reinhard Schult und Wolfram Kempe adressierten Brief in der Volkskammer DOKUMENTATION
Liebe Bärbel! Lieber Reinhard! Lieber Wolfram!
Als wir am Samstag abend gemeinsam über die Ursachen der verzögerten Stasi-Aufklärung, über Glaubwürdigkeit oder Nicht-Glaubwürdigkeit der Veränderungen in der PDS diskutierten, wurde mir bewußt, daß es Euch nicht nur um die Aufdeckung alter und (nach dem 18.März) neuer Zusammenhänge bei der Verschleierung von Machtmechanismen des MfS geht, was ich unterstütze, sondern auch um die persönliche Verantwortung oder Schuld jedes einzelnen am Zustandekommen des Stasi-Netzes. Dabei spielen für Euch die Kriterien des Volkskammer-Sonderausschusses (...) nur eine untergeordnete oder keine Rolle. Ihr wollt die öffentliche Diskussion über jegliche Form der Kontakte, Zusammenarbeit und Mitverantwortung, wovor bisher die meisten aus verschiedenen Gründen zurückschrecken.
Ich weiß nicht, ob auf diese Weise der massenhaft ablaufenden öffentlichen Verdrängung entgegengewirkt werden kann. Ich weiß aber, daß sie stattgefunden hat, auch bei mir, und weiterhin stattfindet. Ausdruck dieser Verdrängung ist, daß ich Gregor nicht über meine „Gechichte“ informierte, als ich in unser Präsidium gewählt wurde, sondern erst, als die Überprüfung der Volkskammerabgeordneten begann. Überprüft bitte dennoch, ob Ihr meinen Wunsch akzeptieren oder richtig finden könnt, daß nicht Ihr, also zum Teil die Opfer des Systems, es allein sein dürft, die nun als Richter über die Glaubwürdigkeit bestimmter subjektiver Veränderungsprozesse zu entscheiden haben, ich weiß, daß Euch das einiges abverlangt und will Euch auch nicht Eure Zweifel, Euer Mißtrauen mit dem Verweis auf unsere ganz gute Kommunikation während der letzten Monate ausreden. Vielleicht könnt Ihr aber dennoch verstehen, daß uns nicht gedient ist, (ich sage das „uns“ ganz bewußt), wenn es Personengruppen oder „Instanzen“ gibt, die „Verurteilungen“ oder „Freisprüche“, (jenseits der in anderen Fällen anstehenden Gerichtsverfahren) aussprechen können. Ich will keinen Freispruch von anderen, (...), sondern meine eigene Geschichte annehmen und zugleich meinen Veränderungsprozeß in Auseinandersetzung mit Euch, FreundInnen von der Linken Liste/PDS, GenossInnen meiner Partei und anderen Menschen selbst bewerten und dadurch vorantreiben. Solltet Ihr das für die „bequeme Tour“ halten, kann ich Euch nur sagen, daß Ihr euch damit gewaltig täuscht.
Nun zu meiner „Geschichte“. Nach meinem Studium habe ich ehrenamtlich und hauptamtlich in einer Hochschulgruppenleitung der FDJ gearbeitet. Dazu gehörte auch der erste Kontakt mit den für die Hochschule eingesetzten MfS-Mitarbeitern, der sich auf die Tätigkeit der FDJ als Organisation bezog. Dazu gehörten Abstimmungen von sogenannten Kadereinsätzen, zum Beispiel bei Auslandsreisen. Nach meinem Studium und meiner Arbeit an der Hochschule wurde ich für einen direkten Einsatz für das MfS angesprochen. Dafür wurde von mir ein abrupter Bruch mit meiner bisherigen Entwicklung, mit meinem persönlichen Umfeld und letztlich mit diesem Land verlangt. Weil ich diese Konsequenzen nicht wollte (nicht weil ich prinzipielle Bedenken hatte), lehnte ich ab, unterschrieb aber trotzdem eine Erklärung. In der Bezirksleitung der FDJ war ich ab 1984 verantwortlich für Kulturarbeit und hatte dort ebenfalls Kontakt mit „zuständigen“ MfS-Mitarbeitern. Jedes Konzert, ob in der Werner-Seelenbinder-Halle oder die ersten großen Freiluftkonzerte, wurde entsprechend der jeweiligen sogenannten „Sicherheitskonzeption“ in enger Zusammenarbeit mit der Polizei und MfS vorbereitet. Das muß ich sagen, da mich diese „Partner“ sogar unterstützt haben, zum Beispiel, das Bob-Dylan-Konzert oder das erste größere Punk-Konzert genehmigt zu bekommen. Genauso wurde ich aber auch mündlich darüber befragt, was ich von Bands, Personen, Klubs usw. halte. Aus meiner damaligen Sicht glaubte ich, ihnen damit sogar zu helfen. Wie meine damalige Arbeit von den Bands, bildenden Künstlern, Jugendklubs und anderen heute bewertet wird, weiß ich nicht von allen. Man könnte sie fragen.
Was mit den von mir erhaltenen „Informationen“ gemacht wurde, muß die Überprüfung meiner Akten durch den Untersuchungsausschuß der Volkskammer ergeben. Sie steht noch aus. Der Inhalt dieser Akten ist mir unbekannt.
Am Samstag hat Wolf Biermann gesagt, daß nur 107 Volkskammerabgeordnete frei von MfS-Vergangenheit sind, soviel wie gegen Diestel gestimmt haben. Zwar war ich zur Abstimmung nicht im Haus, was schon als Kneifen gedeutet wurde, doch bin ich sicher, daß Wolfs Aussage das Problem nicht richtig trifft. Ich hätte zum Beispiel bei Anwesenheit gegen Diestel gestimmt und wäre dann nach dieser Auffassung „aus dem Schneider“. Bin ich aber nicht. Genauso gut kann ich mir vorstellen, daß „unbelastete“ Leute für ihn gestimmt haben. „Freisprüche“ und „Verurteilungen“ lassen sich also so m. E. nicht „verteilen“.
Der Schritt in die Öffentlichkeit, den ich ja wohl hiermit gehe, fällt auch mir schwer. Ich hatte nicht nur Angst vor den Konsequenzen für mich, sondern befürchte, durch die Verzögerung meines Schrittes nun der Erneuerung meiner Partei und ihren Wahlchancen zu schaden. Wenn es Euch darum geht, daß er mehr Menschen möglich wird, dann solltet Ihr Euch fragen, ob nicht auch Ihr dazu beitragen könnt? Was ich damit meine, habe ich in der Einleitung meines Briefes auszudrücken versucht. Eine Frage an Euch habe ich noch. Wie gehen wir, also Ihr und ich, in Zukunft miteinander um? Rainer Börner, 17.9. 1990
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