: Parkett für Volxkultur
■ Die Wiedereröffnung des legendären SO36
Gelegentlich kommt man zu Orten, die eng verknüpft sind mit eigener Vergangenheit, die Spuren hinterlassen haben in der eigenen Psyche (und wohl nicht nur in der eigenen). Da läuft man dann durch, und flüchtige Filmfetzen scheinen von den frisch getünchten Wänden loszubrechen, grelle Bilder von damals springen einen an. Weißt du noch? Erinnerungen liegen wie Doppelbelichtungen in den Gängen, selbst das Gelächter, die Gespräche, Musik, das dröhnt halluziniert ein bißchen schleifend von fern herüber. Spuren im Kopf, die das SO36 annläßlich der Wiedereröffnung am Samstag evozierte. Und vielen schien es so zu gehen, vielen, die dann später, als die Rockkapelle aufspielte, herumstanden und redeten. In behutsamer Freude sich wunderten, daß sie wieder da waren, im SO36 in der Oranienstraße. Da und beisammen.
Eine Crew von zwölf Leuten sorgt nun enthusiastisch und im finanziellen freien Fall für die Organisation des neuen SO. »Hundertfleck« ist nicht mehr dabei; es habe sich doch herausgestellt, daß eine Theatergruppe die Räume zeitlich zu sehr in Anspruch nimmt, meint Ernst von der heutigen Crew. Das alte SO hätte seinen Ruf und seine Existenz aus seiner Beziehung zum Umfeld gewonnen. Was auf der Straße aktuell gewesen sei, hätte sich auch in Aktionen im SO niedergeschlagen. Und genau dieses Konzept könne man heute besser verfolgen, da man ohne eine fest installierte Theatergruppe flexibler sei. »Wenn du heute vorbeikommst und sagst, du hast die und die Idee und willst das machen, so und so, dann kannst du hier in zwei Wochen einen Termin haben und es tun.«
Dieser Ansatz, schnell auf Ereignisse reagieren zu wollen, erfordert von der Crew hemmungslose Bereitschaft zum organisatorischen Einsatz. »Die meisten von uns haben mit der Technik zu tun, mit dem Licht und der Musikanlage.« Die hat man jetzt doch anschaffen können. Vor kurzem habe es zwar noch geheißen, daß man keine Gelder mehr aus dem Lotto-Fonds bekomme, aber dann habe sich noch eine andere Finanzquelle aufgetan. Für eine dem Raum angemessene Bestuhlung hat es nicht mehr gereicht. »Wir haben jetzt ein paar Stühle geschenkt bekommen. Aber das reicht noch nicht. Wir wollen ja, daß auch mal eine Tanzgruppe hier auftritt. Und da braucht es dann eben Stühle.« Es mangelt an allen Ecken und Enden.
»Vom Bezirk haben wir eine dreimonatige Mietsubvention erhalten, damit wir erst einmal wirtschaften können. Und dann muß man sehen. Von den Gruppen, die hier arbeiten und auftreten wollen, verlangen wir 200 Mark pro Tag. Wir wollen das so niedrig wie möglich halten, damit sich das auch in niedrigen Eintrittspreisen niederschlägt. Denn das wichtigste ist, daß Leute kommen. Damit eine enge Beziehung zwischen der Straße und dem SO entstehen kann.« Auf einem an der Cassa erhältlichen flyer wird die wesentliche Bedeutung des Publikums noch einmal fett festgeschrieben. Da wird auch nochmals die ambivalente Situation zwischen SO36, Straße und Publikum angesprochen. »Alles, was draußen abgeht, kann zur Schließung des SO36 führen.« Ernst sieht denn auch nicht die mangelnde Schallisolierung des alten SO als Grund für dessen Ende an. »Wir haben versucht, das Ganze so weit als möglich schalldicht zu machen, das geht aber einfach nicht. Und darum ging es damals ja auch nicht. Die haben den Laden zugemacht, weil es zuviel Zoff auf der Straße gab.« Da schlägt eine niedliche politische Sanierungs- und Befriedungsstrategie voll durch; Raum für Volxkultur bietet heute das SO und nicht mehr die Straße, das öffentliche Bild.
Dies zur Einbettung in Urbania. Innenarchitektonisch hat sich die neue Crew weitgehend am alten Modell orientiert. Es gibt nach wie vor den großen Raum, der mit unterschiedlichen Bühnen ausgestattet ist, variiert werden kann. Was beim Eintreten zuallererst auffällt, ist der Parkettfußboden. »Wir hatten die Wahl zwischen Linoleum und Holz, und da haben wir uns für Holz entschieden.« Menschen in martialischen schwarzledernen Kampfanzügen, die dem unzeitgemäßen (und ungesunden!) Laster des Zigarettenkonsums frönen, stehen auf diesem Parkettboden staunend herum, blicken verzweifelt nach Aschenbechern und lassen die Kippen dann doch fallen, treten die Glut in Lack und Versiegelung.
Derweil üben sich ganz hinten, direkt unter der Decke, auf einer Art Galerie einige Leute in minimalistischer Musik. Blasen ins Blech. Singen später auch einige, wenig modulierte, Tonfolgen. Unter und vor ihnen, auf einer zweiten Bühne, wird anschließend die Tradition des alten SO perfekt zelebriert. Da steht zunächst einer in Schwarz, schlägt Metall auf Metall, daß die Funken sprühen. Ein anderer gesellt sich ihm zu, zupft Standbaß. Dann erscheint ein Dritter mit Klarinette, der hebt an, das Motiv von Ravels Bolero zu intonieren. Hurtig wird nun die Bühne von mehreren schwarzen Gestalten gefüllt. Die tragen Metallmasken, als ginge es an ein archaisches Ritual. Einige schlagen Eisen, andere tanzen wohl somnambul, jemand schrammelt — »Das war vor Jahren« (Fehlfarben) — auf einer Gitarre herum. Derweil hat der Klarinettist, so ein wohlbeleibter Junggebliebener, das Leitmotiv aufgegeben, gibt sich virtuos arabesken Improvisationen hin. Im Hintergrund hängt eine Metallplatte, die mit Schneidbrenner bearbeitet wird. All das ist schön und hypnotisch und erinnert ganz doll an die alten Zeiten, und wie früher weiß auch heute niemand, wann es Zeit ist aufzuhören, Schluß zu machen.
Lange trägt der Rhythmus, und lange währt das hohe Tönen der Klarinette. Man denkt daran, daß der Magen seit Stunden nichts zu tun gehabt hat. Einige Zeit später wiederkommend, rockt dann eine Kapelle vor sich hin. Im Publikum steht man so rum, überhört gewohnheitsmäßig die akustischen Penetrationsversuche, freut sich, daß es das SO wieder gibt, kramt ein wenig in alten Erinnerungen und tauscht auch mal Witze aus. »Bush und Gorbatschow lassen sich in Datenbanken packen. Einige Jahre später hört Bush Gorbatschow lachen. ‘Was'n los, Gorbi‚, fragt er. ‘Ich bekomme gerade die Nachricht, daß sich Texas zur unabhängigen Republik erklärt hat und einen souveränen Staat gründen will‚, sagt Gorbatschow. Schweigen. Kurz darauf hört Gorbatschow Bushs lachen. ‘Was gibt's denn‚, will er wissen. Sagt Bush, ‘Ich lese gerade eine Kurzmeldung: Auffahrunfall an der deutsch-chinesischen Grenze.‚« R. Stoert.
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