: Mörder oder Selbstmörder
■ In Italien stecken viele Jugendliche in der Falle DOKUMENTATION
Der Schriftsteller Alberto Moravia, um den die Nobelpreise immer einen Bogen machten, ist tot. Er starb gestern früh im Alter von 83 Jahren. Wir dokumentieren seinen letzten Artikel im 'Corriere della Sera‘ (20. September). Er beschäftigt sich — noch einmal als das legendäre „großbürgerliche Gewissen der Nation“, das einst den „gleichen Abstand zu diesem Staat und zu den Roten Brigaden“ formuliert hat — mit den Nöten einer verzweifelten Jugend.
Eine Fotografie kehrt in diesen Jahren ständig in unseren Zeitungen wieder: ein sonnenbeschienener staubiger Feldweg auf dem Land, zwischen Hecken und Kaktusfeigen, und da liegt ein Mensch in einer Blutlache, die sich um seinen Kopf herum ausgebreitet hat; zwei, drei Polizeiautos an der Hecke geparkt, Polizisten von hinten zu sehen, viele Leute rundherum.
Diese tragische und auf eigene Weise auch poetische Fotografie wird in den Zeitungen dann mit Texten unterlegt wie „Das Gemetzel geht weiter“, wobei das Wort „Gemetzel“, „Mattanza“ besonders hartnäckig auftaucht. „Mattanza“ ist ein ursprünglich spanisches Wort und bedeutet Tötung. In Süditalien wird damit speziell die Thunfischjagd bezeichnet. Warum „Mattanza“? Weil die großen Fische in die Falle eines besonders geräumigen Netzes gelockt und dann Stück für Stück im Meer umgebracht werden, das sich vom Blut rot färbt. Mattanza bedeutet also Gemetzel. Für mich aber bedeutet es „Falle“, auch wenn es nie in diesem Sinne verwendet wird: die Thunfische möchten fliehen, können aber nicht und werden so, einer nach dem anderen, umgebracht. Warum fliehen sie nicht, die Thunfische? Weil sie das Netz daran hindert.
Zurück zur Fotografie. Was mich vor allem beeindruckt, ist nicht so sehr der Tote: es ist vielmehr das Alter des Ermordeten.
Zumeist handelt es sich um einen Mann um die zwanzig, mitunter sogar darunter, in letzter Zeit auch um Halbwüchsige. Und fast immer ist es, wie das im Juristenjargon heißt, ein Vorbestrafter, einer, der ein- oder mehrere Male im Gefängnis war. Häufig ist der Ermordete selbst ein sogenannter Killer oder professioneller Mörder. Warum wurde er ermordet? Aus mafiosen oder camorristischen Motiven. Die Macht der Mafia hat ihn zum Tode verurteilt, aufgrund ihrendeiner Untreue oder aus Rache oder zur Fortsetzung einer Fehde; danach hat sie die Ausführung an Killer übertragen, die mehr oder minder sein Alter haben.
Weshalb ich unvermeidlicherweise zum Alter des Mannes auf dem Foto zurückkehre. Und ich sage mir, daß ich an seiner Stelle — sähe ich so viele Gleichaltrige fallen und wüßte ich aus unmittelbarer Erfahrung als Killer zuerst und als Opfer danach, daß auch nur der geringste Fehler mit dem Tode bestraft wird — längst geflohen wäre, möglichst weit weg von diesem fatalen Feldweg, hin zu einem langem Leben, auf das ich ein Recht habe wie alle anderen auch. Doch der Tote ist nicht geflohen, hat es vorgezogen zu bleiben und sich umbringen zu lassen. Warum?
Die bürgerliche Gesellschaft hat eine geringere Anziehungskraft als die Mafia
Ich habe nachgedacht und habe mir dann gesagt, daß diese journalistische Metapher der Mattanza wirklich ein Antwort darauf geben kann. Die Thunfische fliehen nicht, weil sie das Netz daran hindert. Vielleicht gab es auch für den Toten auf der Fotografie ein, sagen wir mal, geistiges Netz, das ihn am Fliehen gehindert hat. Welches Netz? Nennen wir es einmal das Teilhaben an der Macht selbst, die ihn schließlich ermordet hat. Diese Teilhabe bewirkte, daß der Tote auf der Fotografie sich selbst ebenfalls als Mann der Macht fühlte, einer subalternen Macht vielleicht, auf niedriger Ebene, aber immerhin einer Macht. Wäre er geflohen, hätte er wohl sein Leben gerettet; doch dieses Leben außerhalb der Macht wäre ihm nicht lebenswert erschienen. Lieber bleiben, „jemand sein“, auch wenn es vorhersehbar das Leben kostet, als fliehen und ein Niemand werden. Klar, daß jemand sein oder niemand sein im Kontext einer jeglichen Gesellschaft existiert; aber das ist eine andere Frage, die hier zu weit führen würde. Uns genügt es festzustellen, daß jede Macht ihre Anziehungskraft besitzt, der man sich nur schwer entziehen kann. Offenkundig hat die Macht der bürgerlichen Gesellschaft eine schwächere Anziehungskraft als die der Mafia.
An dieser Stelle mischt sich wiederum die Zeitungslektüre in meine Überlegungen ein. In diesen Tagen wiederholt sich auch etwas anderes nach immer der gleichen Art und Weise: die Rede ist von den zahlreichen Selbstmorden mit Auspuffgasen. Nun wird man fragen: was hat der Tote auf dem Feldweg mit der Selbstmordserie zu tun? Ich weiß, daß man hier nur schwer Gemeinsamkeiten finden kann. Dennoch, wenn man genau hinsieht und gut darüber nachdenkt, gibt es diesen Berührungspunkt. Und zwar ist es wiederum das Alter der Selbstmörder, auch sie allesamt um die zwanzig herum, wie die Toten der Mafia.
Vielleicht kann man diese Gemeinsamkeit mit dem einfachen Urteilsspruch abhaken, daß sich die Menschen angesichts einer unüberwindbaren Schwierigkeit in zwei Gruppen einteilen lassen: diejenigen, die morden, und jene, die sich selbst umbringen.
Die Falle der 20jährigen: Sich umbringen oder Killer werden
Die unüberwindliche Schwierigkeit, die einen jungen Mann aus dem Süden zum Killer macht, besteht offenbar darin, daß er „jemand“ werden will, das heißt an irgendeiner Macht teilhaben will. Derzeit laufen die Dinge so, daß die einzige verfügbare Macht, jedenfalls für ihn und in diesem Augenblick, die mafiose Macht ist. Das bedingt nun die erwähnte Falle und danach die Mattanza.
Aber auch die jungen Selbstmörder mit Auspuffgasen wollten offenkundig „jemand werden“, und weil sie es nicht geworden sind, glaubten die, daß sie einfach nicht die Möglichkeit dazu haben. Tatsächlich haben einige von ihnen Abschiedsbriefe der Art hinterlassen: „Wir bringen uns um, weil wir keine Perspektiven haben.“ Könnten nicht auch die Killer denselben Satz, mit einer Modifikation („töten“ statt „bringen uns um“), gesagt haben, bevor sie Killer wurden? Der Unterschied bestand darin, zu morden oder sich zu ermorden. Die Falle ist dieselbe, eine geistige Falle, die die Flucht anderswohin verhindert, weit weg vom Tod.
Sicher: da wären doch noch die Perspektiven, die die Kultur im weitesten Sinne bietet. Doch auf diese Perspektiven zu hoffen, ist unmöglich. Die Kultur ist ein unendlich weit entfernter Stern. Das Licht kommt noch immer an, aber der Stern selbst ist womöglich schon längst erloschen. Alberto Moravia
Übersetzung: Werner Raith
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