: Popmoderne und Alltagskunst
Ein Goldfisch auf der Kunstmesse, Volkstheater im Dorf ■ Von Arnd Wesemann
Ist ein Stück Alltag erst zum Kunstwerk erhoben, wie der Flaschentrockner von Duchamp, kann man ihn kaum der Kunst wieder abknöpfen. Zwar ist der Flaschentrockner günstig in jedem Pariser Kaufhaus zu haben. Doch selbst der alltägliche Gebrauch einer solchen Ikone moderner Kunst schadet ihr nicht im mindesten. Der Flaschentrockner bleibt ein Kunstwerk. Dasselbe gilt für den noch so profanen Gebrauch von Warhols Campbelldosen. Sie in der Küche zu benutzen, bereitet ihrem Kunstcharakter offenbar nicht den mindestens Abbruch. Mühsam ist es, solche Kunstwerke tatsächlich in den Alltag heimzuholen. Mühsam vor allem, weil Duchamps Flaschentrockner eine Einbahnstraße war. Ein alltäglicher Flaschentrockner wurde der Kunst zugeschlagen. Umgekehrt, die Kunst im Alltag erscheinen zu lassen, dazu sind größere Anstrengungen nötig. Zum Beispiel Mode und Moderne zu verwechseln. Oder mit bornierter Ideologie Kunst zu verleugnen, gar mit List einen ganz und gar profanen Kunstbegriff einzuführen.
Bislang gab es vor allem nur eine Taktik: Kunst wird zu Design verarbeitet. Skulpturen zum Beispiel von Tony Cragg wurden als Sitzmöbel benutzt. Kam dies auch einer Schändung der Werke durch den Alltag gleich, gibt sich das als Sitzmöbel benutzte Kunstobjekt doch weiterhin ästhetisch. Als Design wird es zu einer Spielart von Kunst, aus lauterem Wettbewerb: um den ideellen Kunstwert gar noch zu erhöhen. Was entfremdet worden ist, lobt das Original.
92 Galerien stellten jetzt auf der Kunstmesse in Düsseldorf 92 Künstler aus. Die „Forum“-Messe gehört zu den besten Europas: Das Werk und sein Schöpfer stehen im Mittelpunkt. Das Licht ist hell, die Räume weit, der Flaneur behält die Übersicht über eine qualitativ hochwertige Auswahl. Nach der Heiligsprechung der Campbelldose aber folgt auch auf der Düsseldorfer Kunstmesse eine Fortsetzung des Widerstreits von Alltag und Kunst: Ein Goldfisch wurde ausgestellt.
Etwas traurig schaut er aus seinem Glas. Ein Kunstliebhaber, der soeben noch vor Wolf Vostells TV-Installation sich vergewisserte, daß sie eine halbe Million Mark wert sein soll, entpuppt sich vor einem unscheinbaren Stand als Tierschützer. Der Goldfisch im Glas erhalte zweifelsohne zuwenig Sauerstoff. Und, ob er heute schon gefüttert worden sei? Er würde ihn nehmen, was kostet er? Der Goldfisch folgt keinem besonderen ästhetischen Konzept, nur einem: Er ist nicht zu verkaufen. Er ist die Leihgabe einer Düsseldorfer Zoohandlung.
Im Hintergrund läuft ein Videoband, das neun Stunden lang ein Goldfischaquarium zeigt. Der Anspruch, dies sei ein Kunstvideo, wird nicht erhoben. Neun Stunden läuft dazu Cassettenmusik, New City Romance 1+2, die vom Chinarestaurant „Golden Town“ durch Herrn Nan Dou Chan „dankenswerterweise zur Verfügung gestellt wurde“. Was die scheußlichen Chinaimitationen kosten, fragt ein Engländer an diesem Stand, „sie passen in meine Küche“. Es ist eine Leihgabe von Edmund Hurtenbach. Edmund Hurtenbach ist Ausstatter von „zig Hunderten“ Chinarestaurants. Die Düsseldorfer Künstlergruppe „Büro Bert“ nennt ihn einen „Gestalter des Alltags“. Er verdient sein Geld nicht auf der Kunstmesse. Er wird nur ausgestellt auf dem Terrain der Kunst.
Die Unverkäuflichkeit von Alltagsobjekten wirkt hier als Provokation. Auch, daß am nächsten Tag als „Gestalter des Alltags“ Düsseldorfs Werbepapst Michael Schirner ausgestellt wird. Die nur zwei mal zwei Meter große Sandfläche zeigt eine Ecke aus Schirners Büro. Rauhfaser, Fußboden. Ein Imitat, kein Original. Ein Dokument eher als ein Fetisch, der zweifelsohne für viel Geld einen Käufer gefunden hätte. Dazu ein Spruch aus Schirners Werkstatt: „Wenn wir munter weitermachen und nicht nachlassen, wird es irgendwann keinen Künstler-Künstler mehr geben. Und es wird auch keine Nicht-Künstler mehr geben.“ Dann ist der Alltag das wesentliche Forum der Betätigung. Der Alltag ist immer schon da, bevor eine künstlerische Tätigkeit sich an ihm spiegelt. Der Alltag selbst ist ein Kunstwerk.
Die vom „Büro Bert“ ausgerufene „Popmoderne“ schwört auf die Alltagskultur, die sie dokumentiert. Bekannt wurde „Büro Bert“, das Trio Mathias Antefinger, Jochen Becker, Renate Lorenz, durch zwei „Stadt- Stücke“. Zufällig und entlang der Koordinaten eines Stadtplans suchten sie 1988 und 1989 erst Gießen, dann Bonn auf. Ihre Fundstücke sowie Aussagen von Einwohnern, Beobachtungen bei der Recherche, Fotos, Video- und Tonbandaufnahmen wurden ausgestellt: die Stadt als Kunstwerk. Inzwischen nennen sie ganz normale Menschen — Gentechnologen, Golfplatzgestalter und Friseure „Gestalter des Alltags“ und stellen sie gegen die Künstler-Künstler zur Schau. Nicht Genie und Authentizität, sondern chinesische Plastikdrachen und Popmoderne: Kunst als große Affirmation des Alltags. Statt des kritischen Blicks des Kunstkenners auf die Messe, „Alles schon mal dagewesen“, der schlitzohrige Ruf der Alltags-Gestalter, „Alles ist da“. An dieses Konzept ist nur eine Regel gebunden: Nichts, was hier ausgestellt wird, darf vom Alltag unterschieden sein. Keine Verfremdung, keine Interpretation: Reine Werktreue gegenüber dem Alltag.
Genau damit hat der Alltag aber seine größten Schwierigkeiten: „Werktreue“ sich selbst gegenüber. In Niederbrechen bei Limburg gelang es der Bevölkerung, Kunst auf ihr eigenes Alltägliches zu verkleinern, ein Kunstwerk ganz auf ihre Bedürfnisse zu zwingen. Frank Xaver Kroetz' Bauerndrama Bauern sterben als Alltagskultur sollte inszeniert werden, so wie es sich der Verein „Kulturelle Erziehung“ unter der Regie von Willy Praml ins Vereinsbuch schrieb. Für das Drama zweier Bauernkinder, die die Landflucht antreten, steht im Ortskern ein echtes Gehöft zur Verfügung. Das Publikum sitzt vor der Scheune und sieht dem Desaster zu. Keineswegs seelenruhig. Vater Bauer spricht Limburger Dialekt und will nicht modernisieren. Alles scheint echt an realen Schauplätzen und damit der Einspruch der Brecher Bevölkerung: Wir haben doch modernisiert, also sind wir nicht so. Schon damit geht's los.
Was Kroetz als Volkstheater schrieb, wird vom Volk ganz anders gesehen. Das Theater soll als subjektloser Spiegel ihres Alltag dienen. Doch Kroetz haut ihnen Kruzifix- Schändungen, Inzest, Prostitution und Leichenschändung — die Tabus ihres Alltags — um die Ohren. An der Kirchentür in Niederbrechen stand aus Kroetz' Stück zu lesen: „Der fußlos Gekreuzigte, ohne Kreuz und Beine in einem Rollstuhl.“ Ein poetischer Satz am rechten Ort. Zitiert hat ihn die Initiative „Engagierte christliche Bürger der Gemeinde Niederbrechen“, und die meint, ihr Dorf wäre genau der falsche Platz. Pramls Regiekonzept sah vor, daß nach dem Entschluß der Bauernkinder im Stück, das Dorf zu verlassen, eine Prozession per Traktor durch die Gemeinde stattfinden soll. Auf die Landflucht folgt bei Kroetz der Stadtfluch. Mahner und Warner am Wegesrand, die das Schicksal der Entwurzelten repräsentieren: Gegen diese unterstellte Entwurzelung aber zogen die Niederbrecher Bürger ins Feld. Sie sind, solange die Kirche im Dorf bleibt, keineswegs Entwurzelte in ihrer Schlafstadt zwischen Limburg und Frankfurt.
Weniger die Bürger, vielmehr die Kirche des Bistums Limburg hat dann Beschwerde geführt. Schwester M.Bernadia Hehl von den Armen Dienstmägden Jesu Christi schrieb: „Weder Radiergummi mit Bleistift noch Informationen und Dikussionen können eine verdorbene Ware [Kroetz' Kunstwerk] wieder aufbereiten.“ Sie ist überzeugt, daß nicht nur der Verfasser „schwerstkrank“ ist, bei allen Barmherzigen, das ist schon „mehr als eine Beleidigung!!!“ In diesem christlichen Ton zog sich die Diskussion über Monate hinweg, das Drama wurde mehrfach umgeschrieben, verharmlost, fast alle Tabus herausgeschnitten. Zum Finale werden die leidgeprüften verzweifelten Bauernkinder nicht etwa eingeschneit, wie bei Kroetz, sondern es erscheint demütig ein Schauspieler als Kleriker, gibt den Gestrauchelten die Absolution und weiße Tauben flattern auf. Die Premiere fand statt, ohne daß ein Brecher Bürger aktiv an ihr teilnahm. Eine Darstellerin, Bäuerin im Hauptberuf, sagte auf die Frage, warum sie denn teilgenommen habe: „Ich bin aus dem Nachbardorf, das geht dann wieder.“
Allein der Vorsatz der Bevölkerung, Kroetz nicht als Künstler, sondern als Antichristen zu titulieren, vermochte es, daß nicht die Entfremdung, sondern das Märchen von zwei Dorfkindern gezeigt wurde, welche reumütig zurückkehren. Was im Text an fleischlicher Radikalität ausgespart wurde, zauberte der japanische Butoh-Tänzer Tadashi Endo wieder herbei. Er ließ mitwirkende Einheimische Butoh tanzen. Natürlich gab auch das ein Palaver, vor allem aber diente der ganze Brecher Theaterrummel einem: Das Volk zerrieb ein Kunstwerk, nämliches Volk, das sonst von Schillers Räubern Werktreue erwartet. Die Alltagskunst, auch Volkskunst genannt, hat hier ihren vielleicht durchgreifendsten Erfolg zu verzeichnen: durch die Kirche und mit Hilfe von zwei Vokabeln der Zensur. „Sauberkeit“ verlangte die „Aktionsgemeinschaft Brecher Landwirte“ und nannte alles andere „abartig“ statt „entartet“. Die Zukunft der „Gestalter des Alltags“, der Kulturschaffenden, will schon deshalb auf dem Terrain der Kunst bleiben. In einem Winkel auf der Düsseldorfer Kunstmesse ist sie sicherer untergebracht als in der Wildbahn deutscher Provinz.
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