Kalkulierte Unmittelbarkeit

■ Der Umbruch der DDR im Fernsehen — ein Rückblick

Am Ende ist das Fernsehen wieder am Anfang angelangt — bei den Direktübertragungen. Beim Einheitsfest suggerieren uns die TV-Anstalten noch einmal dabeigewesen zu sein. Doch wenn wir in ein paar Jahren an die Tage des 9.Novembers und an den Vollzug der Einheit zurückdenken, dann werden ganz andere Fernsehbilder vor unserem inneren Auge hochkommen: die Kerzenketten vor dem Stasisitz in Leipzig während der Montagsdemos, das wächserne Gesicht von Egon Krenz, als er von aufgebrachten SED-Mitgliedern ausgepfiffen wurde.

Schon die Nacht, in der die Trabbis kamen, wie auch die aufrührenden Tage danach wären ohne das Fernsehen sicher nicht zum Inbegriff einer glücklich verlaufenen Revolution geworden. Ob es die Ereignisse beschleunigt und inwieweit es in die Wirklichkeit eingegriffen hat, wäre noch genauer zu untersuchen; herauszufinden wäre dann, ob die Unmittelbarkeit des Live-Mediums einen Verlust oder eine neue Qualität der Wahrnehmung von Wirklichkeit bewirkt hat.

Fest steht jedenfalls, daß das Fernsehen selbst Zeitgeschichte machte: Geschichte, die in Echtzeit erzählt wurde, vor laufenden Kameras. Ein Effekt, der bis in die Reihen der Montagsdemonstranten hineinwirkte, denn viele hatten es eilig, nach dem Protest schnell vor den Bildschirm zur Aktuellen Kamera oder zur Tagesschau zu kommen, um ja nicht die Bilder des Tages zu versäumen. Die Wirklichkeit — genauer, die Wirklichkeiten — des 9.November änderten sich so schnell, schneller, als wir begreifen konnten, und das Fernsehen versuchte, noch schneller als die Wirklichkeit zu sein, ebenfalls ohne begreifen zu können, was da eigentlich vor sich ging. Dieser Moment der Begriffsstutzigkeit vor dem Unbegreiflichen war die eigentliche Chance des Fernsehens — die fehlende Distanz zwischen dem Ereignis und seiner Übertragung ließ Reporter und Zuschauer nur dieses eine Mal verschmelzen. Die Gleichzeitigkeit der sich überschlagenden Meldungen raubte allen die Möglichkeit, sich eine Meinung zu bilden. Die Gefahr des Erstickens an der Informationsflut mag auch bei der Öffnung der Mauer bestanden haben, doch diesmal war sie ein Segen, denn durch die schlichte Überforderung der Medienagenten lief vieles ungefiltert über den Sender, was sonst demn Interpretationsanspruch des Fernsehens zum Opfer gefallen wäre.

Wir dachten damals, das Fernsehen hätte endlich zu sich gefunden — weg von der Aufzeichnung von Banalitäten hin zu einem Festhalten vieler Augenblicke, die sich nicht mehr wie zufällige, sondern wie präzisierte Beobachtungen gestalten. Leider haben die Sender die Chance, Anwalt der Wirklichkeit und nicht deren Interpret zu sein, nicht genutzt. Auf die kurze Phase der Überraschung folgte zwar eine kurze des Interesses an Analysen, Aufdeckung von Skandalen und Wissenswertes über die DDR. Doch was Spiegel-TV, Monitor und andere politische Magazine über Stasi-Machenschaften, Umweltverseuchung und SED-Willkür berichteten, wurde spätestens dann getrübt, als sich die Parteibuchjournalisten einmischten und die Wahlkampfwerbetrommel ihrer Parteien mit Material aus der DDR fütterten. Zu schnell heftete sich das Fernsehen an die Fersen derer, die den Slogan „Wir sind das Volk“ zum „Wir sind ein Volk“ wendeten.

Was danach kam, glitt ab in grauen Fernsehalltag. Kein Staunen mehr, nur noch Starren auf Mißstände, die die Demontage der DDR beschleunigen halfen. Paradoxer Schlußpunkt dieser medialen Vorbereitung des Anschlusses ist die plötzliche Nostalgieschwemme der letzten Wochen. Tagesthemen und heute, aber auch die Privaten entdecken plötzlich, was es Gutes gab im anderen Deutschland. Brave Berichte über Pfandflaschen und Rohstoffrückgabe, Reportagen voller Bedauern über das Ende der weit entwickelten Erdwärmetechnologie — jetzt, wo es zu spät war.

Daß das Fernsehen am Ende wieder zum Mittel der Live-Übertrasung zurückgekehrt ist und uns nun erneut in den Zustand der Gleichzeitigkeit, der direkten Beteiligung, des Vor-Ort-Seins versetzen will, ist schlichter Betrug. Denn damals war das Fernsehen überrumpelt, kam nicht zur Besinnung und blieb deshalb einigermaßen authentisch. Heute ist die Unmittelbarkeit kalkuliert. Es war, genau genommen, die Berichterstattung über ein Nicht- Ereignis, denn die Vereinigung im Herzen kann trotz aller bewegenden Momente nicht dargestellt werden. Die deutsche Einheit auf dem Fernsehschirm — sie war live, wir waren dabei, doch was ist daran wirklich?! Christof Boy