: Der Fortschritt lebt im Osten
■ Schülerumfrage: Jugend im Osten kritischer/ „Republikaner“ kommen im Osten schlechter an
Hamburg (ap) — Die Jugendlichen im Osten sind wesentlich kritischer als im Westen, wie aus der ersten gesamtdeutschen Shell-Umfrage hervorgeht, die am Donnerstag in Hamburg vorgestellt wurde. Wie Otmar Kabat vel Job vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung berichtete, wurden im Mai/Juni 2.600 Schüler im Alter von 13 bis 17 Jahren im Ruhrgebiet und im Ballungsraum Halle/Leipzig befragt.
Für die früheren DDR-Schüler ist die Revolution im Osten, anders als für die Gleichaltrigen im Westen, ein prägendes Lebensereignis. Sie sympathisieren auch stärker mit neuen sozialen Bewegungen und sind gleichzeitig nach Westen orientiert. Ihre Zuneigung zu den Menschen im früheren Bundesgebiet bleibt jedoch unerwidert. Die Westschüler wendeten den Blick desinteressiert ab, sagte Jürgen Zinnecker von der Universität Siegen. 50 Prozent der DDR-Schüler fänden Freunde von „drüben“ angenehm, umgekehrt aber nur 19 Prozent der bundesdeutschen Schüler. Vor allem die männlichen Lehrlinge nehmen gegensätzliche Haltungen ein: Im Osten versprechen sich viele etwas von der Vereinigung, im Westen dagegen wird die neue Konkurrenz mehr gefürchtet, besonders von den Ausländern. Gegner der Vereinigung im Osten finden sich eher bei den Abiturienten.
Der Umbruch in der früheren DDR hat starke Auswirkungen auf die Schüler. Jeder Zweite hat bei der Massenflucht 1989/90 einen Freund in den Westen verloren, die Ausbildungswege müssen neu geplant werden, Schulfächer und der Jugendverband FDJ als Bezugspunkt fallen weg, zahlreiche Eltern werden arbeitslos, die Angst, zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, wächst, wie aus zusätzlich angeforderten Aufsätzen über die Zukunft im vereinigten Deutschland hervorgeht. Schüler in Ostdeutschland fühlen sich aber stärker als Deutsche als Gleichaltrige im Westen (71 Prozent zu 55).
Die Kritik an der eigenen Gesellschaft ist im Osten wesentlich stärker ausgeprägt als im Westen. 78 Prozent der Schüler in der ehemaligen DDR bemängeln die Jugendpolitik, (im Westen 62 Prozent), 57 Prozent kritisieren fehlenden Umweltschutz, im Westen tun dies nur 33 Prozent. Unzufrieden mit Freizeitmöglichkeiten sind im Osten 42 Prozent, im Westen nur 21 Prozent.
Auch die Sympathie für neue soziale Bewegungen ist im Osten stärker ausgeprägt. Die Friedensbewegung kommt bei 76 Prozent im Osten gut an (Westen: 60). Frauenbewegung: 40 zu 25, Bürgerinitiativen: 28 zu 16. Die „Republikaner“ finden nur bei fünf Prozent der Schüler in der früheren DDR Freunde, im Westen dagegen bei zehn.
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