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Retterin des beschädigten Lebens

Der 15. Deutsche Kongreß für Philosophie in Hamburg  ■ Von Ludger Heidbrink

Ob die Philosophie seit gestern tot sei, seit Hegel oder Marx, Nietzsche oder Heidegger, oder ob sie immer schon aus diesem Wissen um ihren Tod gelebt hat“, diese Frage, die Jacques Derrida stellte, war schon immer die Frage der modernen Philosophie. Sei ihr Todeskampf nur Simulation oder brutales Faktum, bekanntlich leben Tote manchmal länger als erwartet (E. Honecker). Die Agonie der Philosophie mag ihren Höhepunkt erreicht haben — als Leiche jedenfalls geht es ihr erstaunlich gut. Seit Jahren herrscht ein Philosophie-Boom, der sich in Studentenzahlen, Volkshochschulkursen, Partygesprächen und Managerschulungen widerspiegelt. Ob es auch der akademischen Philosophie im Angesicht ihres permanenten Endes gut geht, versuchte in der letzten Woche der 15. Deutsche Kongreß für Philosophie in Hamburg herauszufinden.

Herbert Schnädelbach (Hamburg), der zum Jahresende als amtierender Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie von Hans Lenk (Karlsruhe) abgelöst wird, entwarf eine Standortbestimmung der gegenwärtigen Philosophie, die vor allem durch ihre Nüchternheit auffiel. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Philosoph als Ideologiekritiker die verblendete Gesellschaft aus ihrem Schattenreich befreien wollte oder erlösende Utopien imaginierte. Ebenso sind die Tage einer möglichen Letztbegründung wissenschaftlicher Aussagen endgültig gezählt. Die Transzendentalphilosophie, wie sie allein noch in Karl-Otto Apels (Frankfurt) „universaler Kommunikationsgemeinschaft“ als „postmetaphysisches Paradigma“ einer erneuerten prima philosophia überlebt, wurde allgemein zu Grabe getragen, wenn auch nicht ohne Schmerz. Daß es der Philosophie nicht mehr gelingen will, apriorische Wahrheiten zu entdecken, legt einen gewissen sentimentalen Schleier über ihre Reflexionen.

Hilary Putnams (Cambridge, Mass.) öffentlicher Vortrag über die „Zukunft der Philosophie“ beschrieb mit bedächtigen Worten unter Bezug auf den amerikanischen Pragmatisten John Dewey die Notwendigkeit einer politischen Demokratie, in der allein sich die „soziale Intelligenz“ ausbilden könne, deren praktische Anwendung die Philosophie sei. Oswald Schwemmer (Düsseldorf) und Friedrich Kambartel (Konstanz) skizzierten ebenso verhalten die Gefahren eines rein wissenschaftlichen Weltzugangs, dem ein in der lebensweltlichen Erfahrung verankertes philosophisches Argumentieren „kontrafaktisch“ zu begegnen habe. Wissenschaft und Kultur dürften kein Gegensatz sein, sondern müßten sowohl durch begründbare symbolische Kommunikation vermittelt als auch im Erfahrungshorizont der Lebenswelt fundiert werden.

Die Angst vor dem Loch des normativen Relativismus, in das besonders Philosophen analytischer Provenienz zu stürzen befürchten, zeichnete nicht wenige der Beiträge aus. Als sei unsere hochkomplexe Realität noch in letztgültige Konzepte zu fassen und nicht schon längst einem methodischen Fallibilismus überantwortet (an dem es doch im Grunde nichts auszusetzen gibt, wenn man sich in seinem Erkenntnisanspruch zu mäßigen weiß), umwölkte eine gewisse Melancholie ob der verschwundenen Sicherheiten die Referate.

So wie Herbert Schnädelbach die Aufgabe der Philosophie auf den „Versuch der gedanklichen Orientierung im Bereich der Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns“ reduzierte, zeichnete Jürgen Habermas (Frankfurt) in einer Rekonstruktion des Lebensweltbegriffs von Husserl über Heidegger bis zur „kommunikativen Vernunft“ einen Ernüchterungsprozeß philosophischer Wahrheitsfindung nach, an dessen Ende dem Philosophen nur noch die Vermittlungsrolle zwischen der „Alltagspraxis und den Expertenkulturen“ bleibt.

Heidegger und der 9.November

Diese Bescheidenheit war genau das, was Manfred Riedels Vortrag (Erlangen/Nürnberg) über „Metaphysik nach Nietzsche und Heidegger“ fehlte, der zum Eklat des Kongresses wurde. In einer rhetorisch brillanten Rede, deren suggestiver Unterton zweifelsohne zu fesseln wußte, parallelisierte Riedel die Ereignisse des November 1989 mit Heideggers Begriff der Kehre, um sie zur mythischen „Zeitwende“ einer „Einkehr in das Eigene Deutschlands“ zu stilisieren. Die „emotionale Vernunft“, die sich auf den Straßen Leipzigs mit dem Schlachtruf „Wahnsinn“ ihren Weg zurück ins Vaterland schlug, habe vollendet, was schon in Heideggers berühmter Rede über die Zangenstellung Deutschlands zwischen Rußland und Amerika und Nietzsches gehässigen Bemerkungen über die deutsche Kleinstaaterei angelegt war: Deutschlands Sonderweg besteht nicht in seiner Vergangenheit einer verspäteten Nation, sondern in der Zukunft eines neuen zentraleuropäischen Staates.

Unsensibler und mit gefährlicheren Untertönen konnte wohl kaum ein Vortrag auf einem Kongreß gehalten werden, der zum ersten Mal unter freier Beteiligung von DDR- Philosophen stattfand. Nicht nur die Rede von einer „neuen Eigentlichkeit Deutschlands“, vor allem der Rückgriff auf derart belastete Philosophen wie Nietzsche und Heidegger zeugten von einer politischen Ahnungslosigkeit, wie sie wohl nur Denker in tiefster akademischer Abstinenz heimsuchen kann.

Daß Schelte an Riedels Rede durch die anwesenden DDR-Wissenschaftler nur zaghaft vorgetragen wurde, spricht für deren Situation, die während des gesamten Kongresses im Zentrum der Diskussionen stand. In jeder Hinsicht verunsichert, befindet sich die Philosophie der Ex-DDR in einer belastenden Warteposition. Solange die Hoheitsrechte der Länder noch nicht geklärt sind und die Aktivitäten von westlicher Seite im Undurchschaubaren verbleiben, ist niemand in der Lage, konkrete Zukunftsprognosen zu äußern. So schwankten die Haltungen zwischen der Hoffnung auf einen gleichberechtigten Dialog mit den westlichen Kollegen, einem abwartenden Schulterzucken, der verhaltenen Kritik an fehlender Hilfeleistung, aber auch einer resignierten Selbstbezichtigung, „das Marxsche Denken kaputt gemacht“ zu haben. Einigkeit herrschte jedoch durchweg in der Absage an den dogmatischen Marxismus-Leninismus des 'Diamat‘ bei gleichzeitiger „Rettung von Marx“, der als „gesellschaftskritischer Philosoph“ auch heute noch von großer Aktualität sei.

Das Plädoyer für einen „Selbstklärungsprozeß“ (Schnädelbach) der DDR-Philosophie deutete die momentane Hilflosigkeit auf beiden Seiten an. Drüben gibt es die Angst vor Stellenstreichung und intellektueller Vereinnahmung, hier existieren Unsicherheiten über eine mögliche Hilfestellung und Irritationen hinsichtlich nachwirkender ML- Dogmen. Allerdings verschätzt man sich, unterstellt man den Ostphilosophen Kenntnislosigkeit auf dem Gebiet der modernen Philosophie. Unter dem Deckmantel philosophiegeschichtlicher Forschung konnten bis zu einem gewissen Grad unbehelligt Studien des westlichen Denkens getrieben werden. Es gibt also keinen Anlaß, mitleidig und mit belehrendem Ton den Dialog zu führen, wie es bisweilen geschieht.

Neben dem Abschied vom Transzendentalen und einer Hinwendung zur Praxis in Form von Lebenswelt, Erfahrung und Kultur stand besonders eine umfassende Ethikdiskussion im Vordergrund. Ob als „Wissenschaftsethik“ zur Kontrolle und Einbettung der Forschung ins Gesellschaftsganze durch „Wissensparlamente“ (Dietrich Böhler, Berlin) oder als „Wirtschaftsethik“, die die Folgen hochtechnologischer Entwicklungen abzuschätzen und in Form einer „Institutionenethik“ (Christoph Hubig, Berlin) schon an den Wurzeln anzusetzen versucht — in beiden Fällen wurde die Notwendigkeit einer differenzierten Handlungsethik in Erweiterung des etwas verstaubten kategorischen Imperativs Kants deutlich. Ähnlich neue Probleme, wie sie die Hochtechnologieforschung, besonders im Bereich der Genmanipulation, für eine philosophische Ethik stellt, ergeben sich auch im Bereich der „künstlichen Intelligenz“. Ob das menschliche Gehirn wie ein Computer funktioniert und wer bei komplexen Rechenprogrammen schließlich noch zur Verantwortung gezogen werden kann, sind Fragen, denen die Philosophie noch etwas irritiert gegenübersteht, die aber zunehmend wichtiger werden und in eine „technologische Ethik“ gehören.

Ebenfalls noch fremd in einem akademischen Betrieb, der immerhin zweieinhalbtausend Jahre Wissen mit sich herumzuschleppen hat, stehen zwei andere Erscheinungen der späten Moderne, die Feministische Philosophie und die „Philosophische Praxis“. Letztere bietet kompensatorische Sinnfindung, aber auch ernsthafte Information. Die Frauen haben weiterhin mit einer Wissenschaft zu kämpfen, die wie kaum eine andere in Männerhand ist und historisch in ihren eigenen Reihen die größten Feinde weiblicher Logik (die Vortragende führte hier eine entsprechende Äußerung von Wittgenstein an) aufweist, wie es Elisabeth List (Graz) ausführte.

Das Problem der Postmoderne, in seiner feuilletonistischen Allgegenwart auf diesem Fachkongreß wohltuend unterrepräsentiert, tauchte entsprechend nur am Rande auf. Peter Engelmanns (Wien) Versuch, mit Derridas Hilfe eine „dekonstruktionistische Posttotalitarismuskritik“ zu konzipieren, blieb so gewagt wie die Idee von Wolfgang Welsch (Bamberg) pauschal, die Moderne als Epoche der Ästhetik gegen die Postmoderne als „Zeitalter der Anästhetik“ abzugrenzen, wenn auch der Ansatz von Welsch eine gewisse Attraktivität in einer Zeit besitzt, in der die Erfahrung von „Sensationen und Choks zertrümmert“ wird, wie Walter Benjamin einmal schrieb, dem trotz seines fünfzigsten Todestages kein Referat gewidmet war.

Der Zusammenbruch der DDR, eines Systems also, das schließlich gelebte Philosophie war, wenn auch nicht im Sinne seiner Urheber, und die Rolle des professionellen Denkens in einer unüberschaubaren Gegenwart, die nach wie vor von ökonomischen Prämissen bestimmt wird, werden für die Zukunft die vordringlichsten Themen einer Disziplin sein, die gerade jetzt ihre Kompetenz auch in politischer Hinsicht unter Beweis zu stellen hat. Jenseits esoterischer Forschung, aber mit dem Blick des intellektuellen Spezialisten auf die Dinge könnte es der „Philosophie als Plural“ (Schnädelbach) gelingen, den Einbrüchen subjektloser Systeme in die Alltagssphären entgegenzuwirken. Ob sie dieser Aufgabe einer Retterin der beschädigten Lebenswelt gewachsen sein wird, hängt von der Zähigkeit ihres Überlebenswillens ab.

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