: „Wir hätten einige DDR-Strukturen übernehmen können“
■ Dieter Simon, seit 1989 Vorsitzender des Wissenschaftsrates der Bundesrepublik und seit 1980 geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, über die Situation der Universitäten und ihrer Professoren in der ehemaligen DDR INTERVIEW
taz: Die zentralistische Struktur der Universitätenlandschaft in der früheren DDR muß revidiert werden. Wie können die starken regionalen Unterschiede ausgeglichen werden?
Dieter Simon: In der DDR gab es keine Universitäts-Neugründungswelle wie bei uns in den 60er Jahren. Es existieren nur sechs Universitäten in Rostock, Greifswald, Leipzig, Berlin, Halle und Jena. Deneben gibt es noch 48 Hochschulen, die zum Teil auf nur ein Fach spezialisiert sind. Insgesamt gibt es 52.000 Studenten. Es liegt nun also an den neuen Bundesländern auf dem früheren Gebiet der DDR, einen Ausgleich zu schaffen. Ich befürchte jedoch, daß die Länder erst einmal andere Prioritäten setzen werden. Politiker denken nun mal nicht in erster Linie an die Universitäten.
Wird der Bund den neuen Ländern bei der Gründung und zum Teil auch notwendigen Renovierung von Universitäten helfen?
In erster Linie müssen das die neuen Länder mit dem Bund regeln. Normalerweise wird nach dem Hochschulbau-Förderungsgesetz ein finanzieller Verteilerschlüssel von 50:50 Bund — Land angelegt. Es wird aber abweichende Regelungen davon geben müssen. Die Länder in der früheren DDR können diese Finanzlast erst einmal nicht tragen. Deshalb halte ich einen Verteilerschlüssel von beispielsweise 90:10 für realistischer.
Besteht nicht die Gefahr, daß die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Zweige beim Verteilen der Gelder bervorzugt werden?
Der Löwenanteil der Wissenschaftsfinanzierung wird in die Naturwissenschaften fließen. In der früheren DDR werden die Geisteswissenschaften bestenfalls so behandelt wie bei uns auch, also ziemlich kärglich. Außerdem waren die Geisteswissenschaften vollkommen politiküberfremdet, weil das fachliche Element hinter das politische zurücktreten mußte. Sie sind deshalb sowohl gedanklich als auch strukturell in miserabler Verfassung. Dagegen konnten sich die Naturwissenschaften von der Metaphysik freihalten. Wenn sie jetzt Geld bekommen, haben sie eine bessere Voraussetzung und können viel schneller ein westliches Niveau erreichen. Im außeruniversitären Bereich hängt für die geisteswissenschaftliche Forschung viel davon ab, ob sich die Max- Planck-Gesellschaft engagieren wird. Aber das sehe ich eher pessimistisch.
Werden eigentlich alle ehemaligen DDR- Professoren verbeamtet?
Das ist ein heikles Problem. Die Artikel 13 und 20 des Einigungsvertrages in Verbindung mit der Anlage 1 Kapitel 16 sehen vor, daß die Angestellten der Einrichtungen, die zu Bundeseinrichtungen werden, automatisch in den öffentlichen Dienst gelangen. Bei den Ländern ist das komplizierter. Die Professoren haben keinen Dienstvertrag, da die Universitäten nicht automatisch an die Länder übergehen. Sie müßten sich in einer Warteschleife einreihen, das heißt, sechs Monate erhalten sie 70 Prozent ihres Gehalts. Danach wären sie arbeitslos. Deshalb muß von den neuen Ländern eine konstituierende Erklärung abgegeben werden, daß sie die Institutionen und damit auch die Universitäten und sonstige Forschungseinrichtungen übernehmen. Sollte das geschehen, werden die Professoren zu Angestellten des öffentlichen Dienstes, aber weiterhin kündbar. Der Kultusminister des jeweiligen Landes kann dann entscheiden, wer übernommen wird und wer nicht. Und dann tritt noch der Paragraph 52 der Hochschulverordnung in Kraft. Darin heißt es, daß der Professor abberufen werden kann, wenn sich sein Berufungsgebiet ändert. Je nachdem, wie dieser Begriff gehandhabt wird, kann er zu einem scharfen Messer werden. Dabei könnten durchaus alte Rechnungen beglichen werden.
In der Ex-DDR haben nur 12 Prozent eines Jahrganges studiert, hier sind es 23 bis 26 Prozent. Da die Situation an den ehemaligen DDR-Universitäten miserabel ist, strömen viele Bewerber an bundesdeutsche Hochschulen. Wie werden unsere Hochschulen damit fertig?
In der Tat wird die Zahl der Studenten aus der ehemaligen DDR rapide ansteigen. Viele konnten früher nicht studieren, weil sie bestimmte Aufnahmebedingungen nicht erfüllten.Deshalb müßte man den DDR-Studenten sagen, daß sie im Westen studieren sollen. Aber auf der anderen Seite sind unsere Hochschulen völlig überbelegt. Ich kann keine Empfehlung geben, denke aber, daß die DDR-Studenten mehrheitlich im Osten bleiben. Diejenigen, die hier studieren wollen, sollten wir aufnehmen und Solidarität entgegenbringen. Den Egoismus der westdeutschen Studenten, die Angst haben, daß ihnen die Studienplätze weggenommen werden, kann ich zwar verstehen, aber nicht billigen.
Im Juli waren Sie noch der Meinung, daß es nicht einfach darum gehen könne, der DDR das bundesdeutsche Wissenschaftssystem überzustülpen. Vielmehr biete sich nun auch für uns die Chance zu prüfen, inwieweit unser Bildungs- und Forschungssystem zum Teil einer Neuordnung bedürfe. Wurde diese Chance genutzt?
Nein. Das Wissenschaftssystem wird nur um den Raum und die Bevölkerung der DDR vergrößert, nicht aber qualitativ verbessert. Dabei hätten wir durchaus einiges von den DDR- Strukturen übernehmen können. Zum Beispiel war das Betreuungsverhältnis, das heißt die Zahl von Studenten pro Lehrkraft, ideal, nämlich 1:5. In der Bundesrepublik liegt der Durchschnitt bei 1:18.Nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich hätten wir lernen können: Das Studium in der Ex-DDR war verschulter als bei uns. Das bringt sicher auch Nachteile mit sich. Hier studiert nun mal die große Mehrheit der Studenten nicht, um den wissenschaftlichen Nachwuchs zu bilden, sondern um bessere Berufsqualifikationen zu haben. Für diese Studenten muß die Uni umstrukturiert werden, und zwar zu einem verschulteren und verkürzten Studium. Das heißt natürlich nicht, daß diejenigen, die länger studieren wollen, um sich zum Beispiel zu qualifizieren, dies nicht mehr können.
In der Ex-DDR wird zur Zeit die Forschungslandschaft unter Federführung des Wissenschaftsrates evaluiert. Welche Chancen räumen sie den DDR-Einrichtungen ein?
Die Chancen sind nach Fächern und Disziplinen verschieden. Manche Fächer werden entfallen, andere müssen umstrukturiert werden. Auch verschiedene Einrichtungen zentraler Art werden zerlegt, andere zu sehr spezialisierte zusammengefaßt werden müssen.
Interview: Marcel Machill
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